Die Türkei geht gegen einen angesehenen gemäßigten Muslim vor

Onurs High-School, das Fatih-College, gehört zu einer blühenden islamischen Gemeinschaft, die mit Fethullah Gülen, einem 62-jährigen religiösen Führer, der in Pennsylvania (USA) lebt, assoziiert wird. Die lose zusammenhängende Bruderschaft unterhält neben Hunderten von Schulen in der Türkei, auf dem Balkan und in Zentralasien, auch einen Fernsehkanal, eine Radiostation, eine Werbeagentur, eine Tageszeitung und eine Bank. Diese sind pro-islamisch ausgerichtet und in Istanbulangesiedelt.

Gülen ist zwar in den USAnicht sehr bekannt; viele Jahre lang fungierte er jedoch als inoffizieller Botschafter der Türkei, der eine gemäßigte Linie des Islam unterstützte. Er predigte Toleranz und traf sich mit Papst Johannes Paul II. und anderen religiösen und politischen Führungspersönlichkeiten, u.a. auch mit türkischen Premierministern und Staatspräsidenten.

Doch in diesem Monat erließ ein türkisches Gericht nach jahrelangen Ermittlungen Haftbefehl gegen Gülen. Ein Anklagevertreter beschuldigt ihn, seine Anhänger angestiftet zu haben, die säkulare türkische Regierung zu stürzen - ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht. Die zuständigen Behörden haben zwar nicht den Versuch unternommen, Gülen auszuliefern; aber der Haftbefehl ließ den Kreis seiner Bewunderer erschauern und weckte Ängste unter Liberalen, die indirekt mit seiner Bewegung verknüpft sind.

Zur gleichen Zeit war die Regierung in einen in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Streit um die Entlassung Tausender Staatsbeamter involviert, die man verdächtigte, Verbindungen zu pro-islamischen Gruppen oder Separatisten zu unterhalten. Über einen Regierungsbeschluss beantragte Premierminister Bülent Ecevit die Genehmigung der Entlassung. Doch Präsident Ahmet Necdet Sezer weigerte sich zweimal, diesen Antrag zu unterzeichnen und ihn somit rechtsgültig zu machen. Sezer argumentierte, die Genehmigung könne nur vom Parlament erteilt werden. Heute stimmte die Regierung zu, die Angelegenheit im Herbst dem Parlament zu übertragen.

Die verfahrene Situation ließ Rufe nach Rücktritt Sezers laut werden, der sein Amt erst im Mai angetreten hat. Außerdem verstärkte sie die beinahe ununterbrochen spürbaren Spannungen zwischen den Hardlinern des säkularen Systems und jenen, die eine größere Toleranz gegenüber religiösen Ansichten und freier Meinungsäußerung fordern.

In einer schriftlichen Antwort auf Fragen der New York Times brach Fethullah Gülen unlängst ein Jahr öffentlichen Schweigens und wehrte sich gegen die Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben werden. Er bezeichnete die Verdächtigungen als Erfindungen einer „marginalen, aber einflussreichen Gruppe, die in politischen Kreisen über erhebliche Macht verfügt.

Gülen sagte, er wolle keineswegs ein islamisches Regime installieren, unterstütze aber Bemühungen, die gewährleisten, dass die Regierung ethnische und ideologische Differenzen wie ein kulturelles Mosaik behandle und sie nicht als Anlass zur Diskriminierung nehme.

„Standards von Demokratie und Gerechtigkeit müssen auf die Stufe unserer Zeitgenossen im Westen gehoben werden", so Gülen, der sich im vergangenen Jahr in den USA in ärztliche Obhut begeben hat und mitteilte, sein gesundheitlicher Zustand verhindere seine Rückkehr in die Türkei.

Die militärischen Machthaber in der Türkei haben Fethullah Gülen lange Zeit als eine potenzielle Gefahr für den Staat betrachtet. Diese Befürchtungen schienen sich vor einem Jahr zu bestätigen, als TV-Sender Passagen von Videoaufnahmen sendeten, in denen Gülen seine Anhänger scheinbar dazu aufrief, die Regierung „geduldig und im Geheimen" zu infiltrieren.

Gülen behauptete damals, seine Worte seien aus dem Zusammenhang gerissen, einige auch verändert worden. Er sagte, in Wahrheit habe er Anhängern, die mit korrupten Beamten und Verwaltungsangestellten konfrontiert waren, welche sich praktizierenden Muslimen gegenüber intolerant gaben, geraten, geduldig zu sein.

„Erklärungen und Worte wurden mit Pinzetten herausgepickt und so montiert, dass sie den Interessen derjenigen, die hinter diesem Plan stehen, dienen."

Es ist unwahrscheinlich, dass die Aussagen Gülens die Hardliner, die sich für die Garanten der 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten modernen Türkei halten, überzeugen werden. In ihren Augen säen die Unternehmen und Schulen, die von seinen Anh.gern betrieben werden, die Saat eines islamischen Regimes.

Einige moderate Türken glauben, diese islamisch orientierten Schulen und Unternehmen stellten einen Versuch dar, eine Lücke zu füllen, die Politik und Diskriminierung der Regierung hinterlassen haben. Eine Studie der privaten türkischen ,Stiftung für Ökonomie und Sozialwissenschaften' kam zu dem Ergebnis, dass diese islamischen Gruppen nicht nur bei den Armen Anklang finden, sondern auch bei den strenggläubigen Muslimen, die sich oft ausgeschlossen fühlen.

Die Schulen, die sich an Gülen orientieren, lehren (in englischer und türkischer Sprache) nur solche religiösen Inhalte, die von der Regierung genehmigt wurden. Die Studiengebühren betragen mehrere Tausend Dollar pro Jahr, und an die Studenten werden hohe akademische Anforderungen gestellt.

„Strategisch gesprochen sind die Schulen etwas, das der Staat unterstützen sollte, denn auf diese Weise ist eine türkische Präsenz in den jeweiligen Ländern garantiert", sagt Ozdem Sanberk, Direktor der Stiftung für Ökonomie und Sozialwissenschaften.

Am Fatih-College außerhalb Istanbuls hegt der 16-jährige Onur Elgin nicht den Wunsch, die Regierung zu stürzen. Sein einziges Ziel derzeit ist, genug Physik zu pauken, um im türkischen akademischen Nationalteam mithalten zu können.