Hizmet-Bewegung in der Türkei

Für Erdoğan stehen die geheimen Kräfte hinter den gewalttätigen Ereignissen fest: Kurdische Kreise, die Oppositionspartei CHP, die Hizmet-Bewegung, Teile der Presse und das Assad-Regime.

Die Türkei und das Kurden-Problem: Befindet sich das Problem auf dem Weg der Lösung? Oder verschärft sich das Problem vielmehr? Eine viel wichtigere Frage ist jedoch, in welche Richtung das Land unter dem Präsidenten Erdoğan geht.

So wie es mit der Wahrheit so eine Sache ist und jede Medaille zwei Seiten hat, so gibt es auch in diesem Fall unterschiedliche Wahrheiten.

Glaubt man Regierungskreisen, so läuft vieles wunderbar: Das Land entwickelt sich, die Wirtschaft ist stark, seine Führung spitze. Das Land wird von einem starken Staatspräsidenten regiert, der Volkswillen in Person ist.

Auch das Kurden-Problem befindet sich auf dem Weg der Lösung. Seit Monaten gibt es keine Toten mehr. Wenn die Kurden ein bisschen klug wären, müssten sie erkennen, welch ein Glück sie haben mit einem Staatspräsidenten Erdoğan.

Die andere Sicht: Das Land kocht. Kämpfe um die syrisch-kurdische Stadt Kobani, die an der türkischen Grenze liegt, haben die Kurden mobilisiert. Kurden haben sowohl in der Türkei, als auch außerhalb des Landes ihren Unmut in Form von Demonstrationen kundgetan.

Während die Demonstrationen in Deutschland weitgehend friedlich abliefen, konnte man das für die Türkei nicht behaupten. Bei den Auseinandersetzungen starben insgesamt 37 Menschen, plus zwei Polizisten. 135 Polizisten wurden verletzt, insgesamt 1.162 PKW wurden zerstört, darunter 531 Polizeiwagen.

Die Polizei: Dein Freund und Beobachter Deiner Not

Banken wurden geplündert, Gebäuden der Stadtverwaltungen in Brand gesteckt. Es wurde versucht, Schulen und Schülerwohnheime in Brand zu stecken, der Tod von unschuldigen Schülern und Zivilisten in Kauf genommen.

Die Bilanz: 1.122 öffentliche Gebäude wie Polizeidienststellen, Bibliotheken oder Museen abgebrannt oder angegriffen. Darunter befinden sich auch 214 Schulen. Auch über 30 Einrichtungen der Hizmet-Bewegung wurden Ziel vandalierender Gruppen.

Bemerkenswert bei der ganzen Sache: Die Staatsgewalt meldete sich viele Male ab. So wie vor etwa zwei Monaten in Muş ein hizmetnaher Nachhilfekurs angegriffen und die Polizei sich bei dem Ganzen als „Dein Freund und Beobachter Deiner Not“ zeigte, so gab es ähnliche Szenen auch dieses Mal.

In Hakkari gerieten Schulen und Schülerwohnheime ins Visier militanter Demonstranten, man rief die Polizei. Aber die ließ sich nicht blicken. Sie kam erst nach ungefähr drei Stunden.

Ist es Unvermögen? Oder Absicht, da es sich um Einrichtungen handelt, die der Hizmet-Bewegung nahestehen?

Beides bedeutet für den türkischen Staat eigentlich nichts Gutes: Entweder man ist nicht mehr Herr der Lage, die staatliche Kontrolle in den kurdisch geprägten Gebieten im Osten des Landes geht langsam abhanden.

Oder der Staat hat unter dem Druck seines Staatspräsidenten seine Neutralität gegenüber seinen Bürgern verloren und übt seine Schutzfunktion selektiv aus - je nach dem, in welchem Lager sie sich befinden. Bei freundlich gesinnten Bürgern greift er ein, bei nicht freundlich gesinnten Bürgern übt er sich in nicht-teilnehmender Beobachtung.

„Was hat Kobani mit der Türkei zu tun?“

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zeigt sich in seinem Feldzug gegen die Hizmet-Bewegung und inzwischen gegen die Kritiker seiner von ihm kontrollierten Regierung eisern. Er lässt nicht locker.

In Rize ging er kürzlich in seiner Rede auf die Ereignisse rund um Kobani ein. Bei seinen Reden nach Wahlsiegen hatte er noch im Stile eines osmanischen Sultans auch die Bewohner von Sarajewo bis Kairo gegrüsst. In Rize fragte er aber, was denn bitte schön Kobani mit der Türkei zu tun habe.

In seiner Allweisheit hatte er auch die geheimen Kräfte hinter den gewalttätigen Ereignisse festgestellt und zählte sie auf: Kurdische Kreise, die grösste Oppositionspartei des Landes, die Hizmet-Bewegung, die er nach dem Aufenthaltsort von Fethullah Gülen kurz Pensylvania nennt. Teile der Presse seien auch unter ihnen, sowie die Assad-Regierung.

Sie alle seien Verräter, sie alle seien für das Land schädlich, sie seien gemein!

Während der Ereignisse rund um Kobani wurde auch eine Weisung des Innenministers Efkan Ala bekannt, in dem er die Sicherheitskräfte anwies, vorrangig AKP-Gebäude, also Gebäude der Regierungspartei, zu schützen.

Was für eine Diskriminierung der Bürger spricht

Ich will aber dieser Politik - falls sie so besteht - eine gewisse Legitimität und Berechtigung nicht absprechen: Will eine Politik effektiv sein, so muss sie seine Mittel effizient einsetzen. Eine Ausschüttung staatlicher Mittel nach dem Gießkannenprinzip bringt selten den gewünschten Erfolg.

Geht man zu einem Arzt mit Beschwerden, so verschreibt er ja auch nicht allgemein Paracetamol oder Aspirin, sondern versucht die Ursache der Beschwerden zu lokalisieren, um dann gezielt dagegen Mittel einzusetzen.

Warum soll ein Staat bei der Schutzfunktion gegenüber seinen Bürgern, bei der Ausübung seines Gewaltmonopols nicht ähnlich vorgehen? Bürger auch noch zu schützen, die sowieso verurteilt oder des Landes verwiesen gehören – wäre das nicht eine Verschwendung der Steuergelder?