Islam und Demokratie: Ein von Missverständnissen geprägtes Verhältnis

Kaum ein Thema auf dem weiten Feld der Politikwissenschaften wird derzeit so ausgiebig diskutiert wie das Verhältnis des Islams zur Demokratie. Kein Wunder, schließlich beeinflusst die Frage, ob sich der Islam mit Demokratie und demokratischen Idealen vereinbaren lässt, direkt und ganz entscheidend das Leben eines Viertels der Weltbevölkerung. Eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema führt Studenten der Politikwissenschaften zu einer weiteren wichtigen Frage: Inwieweit wirken Religionen im Allgemeinen und der Islam im Besonderen auf die politischen Systeme der Staaten ein? Was auch diese Frage so interessant erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit entweder von nichtdemokratischen Regimen oder von unstabilen Demokratien regiert wird. Ausnahmen gibt es nur sehr wenige.[1]

In meinem Beitrag möchte ich zunächst einige allgemeine Probleme aufzeigen, die eine Analyse des Verhältnisses von Islam und Demokratie naturgemäß mit sich bringt. Danach werde ich darlegen, dass das Fehlen demokratischer politischer Systeme in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit von Fachleuten durchaus unterschiedlich interpretiert wird. Dabei werde ich mich schwerpunktmäßig auf zwei wichtige relativ neue Publikationen in englischer Sprache stützen: Zum einen auf das Buch Islam and the Challenge of Democracy (Der Islam und die Herausforderung der Demokratie) von Khaled Abou El Fadl aus dem Jahr 2004. Der Autor untersucht, welchen Spielraum die islamische theologische Lehre für demokratische Systeme lässt. Khaled Abou El Fadl kommt zu dem Schluss, dass kein anderes System zur Ausübung von Herrschaft den sozialen und politischen Werten der islamischen Lehre so effektiv Geltung verschafft wie die Demokratie. Das zweite Buch ist eine Sonderausgabe des Muslim World Journal von 2005, in der kurz und knapp der prominente islamische Gelehrte Fethullah Gülen und seine Gedanken zu Individuum, Staat und Gesellschaft vorgestellt werden. Gülen nähert sich unserem Thema aus einem anderen Blickwinkel und weist nachdrücklich darauf hin, dass die obersten Prinzipien des Islams und die demokratischen Ideale auf gemeinsamen Werten beruhen. Für ihn bilden Islam und Demokratie keineswegs unvereinbare Gegensätze. Abschließend möchte ich mein Thema auf eine allgemeinere Ebene überführen und die Rolle der Religionen generell beleuchten.

Ein politischer Islam? Der fehlinterpretierte Islam der Moderne

Ein übliches Problem bei der Analyse des Islams liegt in der Fehlinterpretation dessen, was im letzten Jahrhundert in der muslimischen Welt beobachtet wurde. Verantwortlich dafür waren vor allem die Orientalisten, die im Islam vor allem eine politische Ideologie sahen, und nicht so sehr eine Religion, die den Individuen ermöglicht, so zu leben, wie es ihr Glaube von ihnen verlangt. Diese Betrachtungsweise reduziert den Islam auf ein Konstrukt, das aus einer Vielzahl von politischen Ideen besteht, und verlangt, dass die Probleme der Muslime weltweit mit Hilfe von Konzepten gelöst werden, die aus eben diesem Konstrukt resultieren. Interessanterweise haben sich diese Betrachtungsweise aber nicht nur die Beobachter aus dem Westen zu Eigen gemacht, sondern auch manche Muslime. Ob der reale Islam indes tatsächlich mit dieser Wahrnehmung übereinstimmt, ob dieses Bild also den Tatsachen entspricht, wurde dabei nie wirklich hinterfragt.

Ein ganz ähnlich gelagertes Problem besteht darin, dass man die Staaten, die in den Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit entstanden sind, mit größter Selbstverständlichkeit als islamische Staaten bezeichnet, ohne diese Behauptung an objektiven Kriterien zu messen. In vielen Fällen reicht es aus, dass sich staatliche Repräsentanten einer islamischen Rhetorik bedienen, um diese Staaten als islamisch einzustufen; selbst dann, wenn es dort keine rechtliche islamische Autorität gibt oder jemals eine gegeben hat. Autoritäre Herrscher brüsten sich gern damit, den Islam zu repräsentieren, obwohl das, was sie tun, nicht einmal annähernd islamisch ist. Daraus folgt, dass ein Staat noch lange nicht islamisch ist, nur weil er eine muslimische Bevölkerungsmehrheit hat oder einen muslimischen Herrscher.

Esposito und Voll bestätigen diese falsche Wahrnehmung. Ihnen zufolge gehen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit autoritäre Regime oft eine Allianz mit eher säkularen Vorstellungen ein, während demokratische Forderungen von den eher islamisch geprägten Teilen der Bevölkerung gestellt werden: "Infolgedessen lässt sich festhalten, dass autoritäre politische Regime säkulare Vorstellungen zu Politik und Modernisierung vertreten [.] Opposition gegen autoritäre Regime ist vor allem dann effektiv, wenn sie die islamische Identität und das islamische Erbe betont."[2] Politiker aller Länder bedienen sich religiöser Rhetorik, um mit ihr die eigenen politischen Strategien zu rechtfertigen. Aber ebenso wenig wie gelegentliche Verweise auf die Religion George Bush oder Angela Merkel zu nichtsäkularen Präsidenten machen oder ihre Länder zu Theokratien, sollten entsprechende Verweise von Herrschern in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit überbewertet werden.

Ähnlich heikle Begriffsbestimmungen betreffen das Prinzip des Säkularismus und die Trennung von religiösen und politischen Sphären. Oft wird behauptet, dass diese zwei Sphären in den Systemen der meisten Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit ineinander übergehen. Vor allem Samuel Huntington spricht diesen Punkt oft an. Er bezweifelt, dass es in diesen Ländern überhaupt demokratische Regime geben kann, da der Islam jede Unterscheidung zwischen religiöser Gemeinschaft und politischer Gemeinschaft ablehne. Eine Balance zwischen der ,Sphäre des Kaisers' und der ,Sphäre Gottes' sei folglich nicht herzustellen, politische Teilhabe beruhe zwangsläufig auf religiöser Zugehörigkeit.[3] Steven Fish hält dagegen und sagt, es sei kaum möglich, in der muslimischen Welt mehr als einige wenige Beispiele für Staaten zu finden, in denen religiöse und politische Kräfte miteinander verwoben sind (wie z.B. Iran und die Taliban in Afghanistan).[4]

Kultur und Islam

Ronald Inglehart gehört zu den Hauptverfechtern der These, dass vor allem die islamische Kultur nicht mit Demokratie und demokratischer Praxis vereinbar ist. In einem Artikel, der 2003 in der Zeitschrift Foreign Affairs erschien, behaupten Inglehart und Norris, dass verschiedene kulturelle Elemente wie Scheidung, Abtreibung, Geschlechtergleichheit und die Rechte von Homosexuellen eine Barriere zwischen demokratischen und muslimischen Ländern bilden.[5] Manus Midlarsky wählt eine andere kulturelle Perspektive und kommt zu dem Schluss, dass die zu geringe Toleranzbereitschaft des Islams die Hauptursache für die Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie sei.[6] Von anderen Autoren werden auch Hierarchie und Gehorsam als islamisch-kulturelle Elemente genannt, die Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung im Wege stünden.

Die hier angesprochenen kulturellen Argumente sind in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens lassen sich einige dieser kulturellen Merkmale zwar tatsächlich in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit nachweisen; doch wurde ihre Verwurzelung im Islam von den Befürwortern dieser Argumente nicht genauer geprüft. Ein Beispiel: In Sachen Intoleranz und Ungleichheit der Geschlechter wird man in Koran und Sunna vergeblich nach theologischen Belegen suchen, die respektloses und intolerantes Handeln gegen Nichtmuslime stützen oder die Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen gutheißen würden. Natürlich stimmt es, dass solche kulturellen Merkmale nicht mit einer demokratischen Kultur vereinbar sind; entsprechende Haltungen aber als charakteristische Merkmale einer islamischen Kultur zu identifizieren, halte ich für aus der Luft gegriffen.[7]

Zweitens scheint es doch recht unangebracht zu sein, den Demokratiebegriff mit Themen wie Scheidung, Abtreibung und Homosexuellenrechten zu verknüpfen. In vielen Fällen wurden die relativen Verdienste solcher kultureller Merkmale um die Demokratie von Wissenschaftlern als irrelevant eingestuft. Nehmen wir nur einmal die bereits oben zitierten Inglehart und Norris. Sie vergleichen zeitgenössische Gesellschaften der westlichen Welt, die den Übergang zur Demokratie schon vor langer Zeit bewältigt haben, mit zeitgenössischen muslimischen Gesellschaften, von denen die meisten noch keinerlei Erfahrung mit der Demokratie haben. Wenn wir aber moderne westliche Gesellschaften als Ausgangspunkt wählen, dann werden wir kaum zeigen können, dass bestimmte kulturelle Haltungen, die heute existieren oder den heute existierenden zumindest ähneln, auch schon vor 100 Jahren eine dominierende Rolle gespielt haben. Damals aber vollzogen sich in eben diesen Ländern die wichtigsten Prozesse der Demokratisierung. Es macht also Sinn, erst einmal zu untersuchen, ob jemals eine ursächliche Verbindung zwischen ,kulturellen Faktoren' wie Scheidung, Abtreibung und Homosexuellenrechten einerseits und der Demokratisierung der westlichen Gesellschaften andererseits bestanden hat. Es kann durchaus sein, dass diese neuen ,postmaterialistischen'[8] Werte westlicher Gesellschaften nur das Produkt unterschiedlicher Phänomene wie z.B. wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung sind, und nicht die Ursache für sie.

Ganz wesentlich ist, dass zwischen Religion - in diesem Fall Islam - und Kultur unterschieden wird. Letztere verändert sich mit den Bedingungen, unter denen eine Gesellschaft lebt: Geografie, Bildung und Erziehung, Wohlstand, Geschichte etc. Dass dieser Unterschied, der ja de facto besteht, immer wieder ignoriert wird, ist einer der Hauptgründe für die unterstellte Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie.

Was sagt die islamische Lehre?

Es ist wichtig, das Verhältnis zwischen Islam und Demokratie aus dem Blickwinkel der überhaupt zur Verfügung stehenden politischen Systeme zu bewerten. Allgemein herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass es heutzutage keine bessere Regierungsform gibt als die Demokratie. Dieser Ansicht schließen sich auch die beiden eingangs genannten Abou El Fadl und Fethullah Gülen an. Beide unterstreichen, dass grundlegende Werte und Ideale wie Menschenrechte, Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit vom Islam gleichermaßen verfochten werden wie in der Demokratie.

Heftig umstritten ist vor allem, ob sich die islamische Scharia in ein demokratisches System integrieren lässt. Abou El Fadl verweist in diesem Zusammenhang auf die Diskrepanz zwischen jenen Staaten der Gegenwart, die sich selbst als ,islamisch' bezeichnen, und der früher üblichen Praxis, den legislativen Kräften des Staates Vorzug vor dem ,Gesetz Gottes' zu geben: "In Saudi-Arabien zum Beispiel werden mit der Notwendigkeit, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, eine Reihe von restriktiven Gesetzen gegen Frauen begründet, so auch das Verbot, Auto zu fahren. Dies ist eine relativ neue Praxis islamischer Staaten, und in vielen Fällen führt sie dazu, dass man den Erlass von Gesetzen, die der Unterdrückung dienen, mit der Scharia rechtfertigt - was völlig im Widerspruch zu dem Prinzip steht, dass unter der Scharia Gerechtigkeit herrschen soll."[9]

Gülen argumentiert im Hinblick auf die Scharia folgendermaßen: "Wenn ein Staat seinen Bürgern die Chance gibt, ihre Religion zu praktizieren, und sie in Denken, Lernen und Handeln unterstützt, dann kann niemand behaupten, dieses System sei mit den Lehren des Islams unvereinbar. Existiert ein solcher Staat, besteht kein Grund, nach einem anderen Modell zu suchen." Und er sagt weiter: "Um bessere Gesetze zu bekommen, sollten die Gesetzgeber das System den allgemeinen gesetzlichen Normen entsprechend reformieren und reorganisieren. Selbst wenn eine solche Erneuerung dann nicht mehr als taschri'i (auf der Scharia basierend) zu bezeichnen ist, muss das nicht heißen, dass sie sich gegen die Scharia richtet."[10] Gülen denkt nicht in den Kategorien von schwarz und weiß oder ja und nein, sondern stellt klar, dass ein politisches System, das nicht auf der Scharia basiert, nicht notwendigerweise gegen die Scharia gerichtet sein muss. Folglich kann ein politisches System wie die Demokratie sehr wohl mit den Grundprinzipien der Religion übereinstimmen. Die Scharia, so Gülen, regelt im Wesentlichen das religiöse Leben des Individuums. Sie stützt sich auf die Weisungen Gottes, auf die Aussprüche und Handlungsweisen des Propheten und auf den Konsens der muslimischen Gemeinschaft. "Lediglich 5% aller Prinzipien der Scharia beziehen sich auf die Verwaltung des Staates. Die verbleibenden 95% hingegen beschäftigen sich mit Glaubensartikeln, den Säulen des Islams und den ethischen Prinzipien der Religion."[11] Die meisten Befürchtungen, die mit dem Wort Scharia verbunden sind, dürften also unbegründet sein.

Kommen wir nun zur Rolle des Individuums und zum Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Dem Islam zufolge ist ein Staatswesen gewissermaßen ein Vertrag zwischen Herrscher und Beherrschten. Beide Seiten haben Rechte und Pflichten, beide Seiten tragen Verantwortung. Im Gegensatz zur üblichen Praxis in vielen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit sind dabei sowohl der Herrscher als auch die Beherrschten an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gebunden. Diktatur und Willkürherrschaft sind also rechtswidrige Formen der Herrschaft: "In einem dem Islam gemäßen Staatswesen müssen sich diejenigen, die an der Spitze stehen, genauso an die Gesetze halten wie die gewöhnlichen Menschen auch. Sie dürfen die Gesetze nicht verletzen, ihr Handeln darf nicht gegen sie verstoßen."[12] Das Recht zu herrschen gebührt weder irgendwelchen spirituellen Führern, das heißt den Ulama, oder irgendeiner anderen religiösen Institution. Stattdessen lässt Gülen keine Gelegenheit aus, den Wert und die Bedeutung des individuellen Menschen und seiner Rechtschaffenheit hervorzuheben. Auch Abou El Fadl geht auf die Ulama und ihre Rolle im islamischen Staatswesen ein. Er erklärt, dass die Ulama in der Vergangenheit zwar eine Vermittlerrolle zwischen Herrschenden und Beherrschten gespielt und sich sogar gegen manche Gewaltherrscher gestellt haben. In der Gegenwart jedoch hätten sie sich leider in vom Staat entlohnte Funktionäre verwandelt, denen von den herrschenden Systemen in der muslimischen Welt eine zumeist konservative, legitimistische Rolle aufgezwungen wird.[13] Diese Argumente stützen die These, dass Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und individuelle Verantwortung im Sinne des Islams sind.[14] Und sie belegen, dass der Islam mit einem demokratischen politischen System vereinbar ist.

Alternativen

Anstatt Ursachenforschung zu betreiben, warum es im Islam eine demokratische Lücke gibt, sollte man sorgfältig analysieren, ob nicht auch andere Faktoren für das Nichtvorhandensein demokratischer Strukturen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit verantwortlich sein könnten. In der Fachliteratur sind bereits verschiedene alternative Erklärungsmodelle für das Phänomen Demokratisierung diskutiert worden. Eines davon ist die Modernisierungstheorie. Sie weist der ökonomischen Entwicklung eine alles entscheidende Rolle zu und versichert, dass für jenen Modernisierungsprozesses, der den Übergang von traditionellen zu modernen Lebensformen markiert, Erziehung und Bildung, soziale Mobilität, Urbanisierung und Kommunikation von zentraler Bedeutung sind. Ein solcher Modernisierungsprozess bringt neue gesellschaftliche Gruppen hervor, z.B. städtische Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder. Diese Gruppen haben unterschiedliche Bedürfnisse und Forderungen an das politische System, die sich von denen der alten ,sozialen Schichten' beträchtlich unterscheiden.[15] Das politische System heute orientiert sich ganz an den Bedürfnissen der neu entstandenen sozialen Gruppen. Um diese Bedürfnisse seiner nun mündig werdenden Bürger erfüllen zu können, nimmt das politische System eine immer offenere und demokratische Form an.

Eine andere Erklärung liefert der Begriff des Ressourcenfluchs, der in den 1990er Jahren geprägt wurde. Mit ihm sollen Probleme auf den Punkt gebracht werden, die speziell in Ländern mit enormen Bodenschätzen auftreten. Im Gegensatz zum Rest der Welt ging der Trend im Nahen Osten lange Zeit hin zu Rentier-Staaten, das heißt zu Staaten, die von den Einkünften aus ihren reichlich vorhandenen natürlichen Ressourcen leben. In dieser Weltregion ist der Staat oft nicht davon abhängig, dass seine Bürger Einkünfte erzielen und Steuern zahlen. Der Staat und zu weiten Teilen die herrschende Elite leben vom Verkauf von Bodenschätzen auf den Weltmärkten. In einer Analyse der Staatenbildung im Nahen Osten untersucht Lisa Anderson das (fehlende) demokratische Verantwortungsbewusstsein der herrschenden Elite und die politische Rolle, die diese Elite spielt. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass die Verteilung der Einkünfte aus dem Verkauf von Bodenschätzen den Staat in eine komfortable Position bringt. Er werde unabhängig von der Gesellschaft, weil er die Bevölkerung durch diese Verteilung ruhigzustellen vermag, anstatt Steuern eintreiben und alle gesellschaftlichen Strömungen repräsentieren zu müssen. Die Tatsache, dass der Staat nicht abhängig von der Gesellschaft ist, führe dazu, dass es den entsprechenden Ländern an einem demokratischen Bewusstsein gegenüber ihren Bürgern mangelt. Das Grundprinzip des ,verteilenden Staates' bestehe darin, dass jeder in der Gesellschaft einen nicht geringen Anteil an den Einkünften des Staates erhält. Das Ergebnis sei ein autoritäres politisches System, das über keinen inneren Mechanismus verfügt, der einer demokratischen Entwicklung Vorschub leisten würde.[16]

Religion und Demokratie

Was die Vereinbarkeit von Demokratie und Religion allgemein anbelangt, so wurden Katholizismus, christliche Orthodoxie, Konfuzianismus und Buddhismus in der Vergangenheit mit ähnlichen Bedenken konfrontiert wie der Islam heute. Auch bei diesen Religionen wurden kritische Fragen gestellt, und ihre kulturellen Sphären wurden als problematisch empfunden: Angriffspunkte boten zum Beispiel die hierarchische Struktur der Kirche, die Betonung des Gemeinschaftslebens anstelle des Individualismus oder auch der hohe Stellenwert von Gehorsam und Respekt.[17]

Aus der Perspektive des interreligiösen Dialogs sind solche Kritikpunkte, die in den letzten 100 Jahren immer wieder einmal ins Feld geführt wurden, aber mit einer wichtigen Einschränkung zu versehen: Manche Bedenken, die an diesen kulturellen und religiösen Merkmalen geäußert werden, sind vielleicht tatsächlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Dabei darf aber nie vergessen werden, dass Religionen höchst komplexe Sets von Gedanken und Lehren verkörpern. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie über das Potenzial verfügen, sich im Laufe der Zeit ständig zu erneuern, um den Anforderungen der Gegenwart gerecht zu werden. Insofern sollte man Religionen Zeit geben und nicht vorschnell über sie urteilen.

Schlusswort

Zu oft werden kulturelle Merkmale von Muslimen in aller Welt mit dem Islam selbst gleichgesetzt. Darüber hinaus werden Länder mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten standardmäßig als islamisch bezeichnet, obwohl weder ihre Verfassungen noch ihre Politik dem Islam auch nur ansatzweise gerecht werden. Wenn es in solchen Ländern keine stabilen demokratischen Systeme gibt, dann ist das meiner Meinung nach auf Gründe zurückzuführen, die mit der Religion nichts zu tun haben - im Falle des Nahen Ostens beispielsweise auf die Abhängigkeit vom Rohstoff Öl, und ganz allgemein auf kümmerliche Bildungssysteme und mangelnde ökonomische Entwicklung.

[1] In der Neuzeit haben nur einige wenige Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit wie die Türkei, Indonesien, Algerien oder auch Pakistan Erfahrungen mit demokratischen Systemen machen dürfen. Die meisten dieser Länder sind bzw. waren jedoch weit davon entfernt, als stabile Demokratien anerkannt zu werden. So unterscheidet sich etwa die Demokratie in Indonesien in qualitativer Hinsicht beträchtlich von Demokratien in Deutschland oder Großbritannien.
[2] John L. Esposito & John O. Voll; Islam and Democracy; 1996, S.16
[3] Samuel Huntington; The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century; 1991, S. 307. Ähnlich argumentiert auch Bernard Lewis in dem Artikel "Islam and Liberal Democracy: A Historical Overview,", in: Journal of Democracy, Bd. 7(2); 1996
[4] M. Steven Fish; "Islam and Authoritarianism", in: World Politics, Bd. 55; 2002
[5] Ronald Inglehart & Pippa Norris; "The True Clash of Civilizations", in: Foreign Affairs, März/April 2003, S. 63
[6] Manus Midlarsky; "Democracy and Islam: Implications for Civilizational Conflict and the Democratic Peace", in: International Studies Quarterly, Bd. 42(3), S. 485-511; 1998
[7] Zu Frauenrechten und zur Behandlung von Nichtmuslimen im Islam, siehe die Abschlusspredigt des Propheten Muhammad. Die Hadithe Sahih Al-Bukhari, Nr. 1623, 1626, 6361 und Sahih Muslim, Nr. 98 beziehen sich ebenfalls auf diese Predigt.
[8] Diese Werte betonen die freie Entfaltung des Individuums und die Qualität des Lebens, ganz im Gegensatz zu materialistischen Werten, die um ökonomische und physische Sicherheit kreisen. Siehe: Ronald Inglehart; Modernization and Postmodernization: Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies; 1997
[9] Khaled Abou El; Islam and the Challenge of Democracy; 2004, S. 15
[10] The Muslim World, Bd. 95(3); S. 450-456
[11] The Muslim World; S.451
[12] The Muslim World; S.450. Siehe auch: Islam and the Challenge of Democracy, S. 3
[13] Islam and the Challenge of Democracy; S. 16
[14] Siehe dazu auch: John L. Esposito & John O. Voll; Islam and Democracy; 1996. Omer Caha; "Islam and Democracy: A Theoretical Discussion on the Compatability of Islam and Democracy", in: Alternatives, Bd. 2(3-4); 2003. Fethullah Gülen; "A Comparative Approach to Islam and Democracy", in: SAIS Review, Bd. 21(2); 2001. Ermin Sinanovic; "The Majority Principle in Islamic Legal and Political Thought", in: Islam and Christian-Muslim Relation, Bd. 15(2); 2004
[15] Karl Deutsch; "Social Mobilization and Political Development", in: American Political Science Review, Bd. 55(3); 1961, S. 493-514
[16] Lisa Anderson; "The State in the Middle East and North Africa" in: Comparative Politics, Bd. 20(1); 1987, S. 1-18
[17] Zu diesem Thema wurden etliche Forschungen angestellt. Siehe z.B.: Max Weber; Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism; 2001. Jim Granato, Ronald Inglehart, David Leblang, "Cultural Values, Stable Democracy, and Economic Development: A Reply", in: American Journal of Political Science, Bd. 40(3); 1996. Steve Bruce; "Did Protestantism Create Democracy", in: Democratization, Bd. 11(4); 2004. Michael Minkenberg; "Democracy and Religion - Theoretical and Empirical Observations on the Relationship Between Christianity, Islam and Liberal Democracy", in: Journal of Ethnic and Migration Studies; 2007. Bruce, S.; "Did Protestantism Create Democracy?", in: Anderson, J. (Hrsg.); Religion, Democracy, and Democratization, 2004; Chaibong, H.; "The Ironies of Confucianism", in: Journal of Democracy, Bd. 15(3); 2004

Die Fontäne, Oktober - Dezember 2008, Jahrgang 11, Nr. 43