Eine Analyse der Gülen-Bewegung und anderer islamischer Bewegungen in der Welt

Was macht den Unterschied zwischen dieser Bewegung und anderen islamischen Bewegungen in der Welt aus?

Es wäre falsch, alle islamischen Bewegungen in der Welt und damit auch in der Türkei nach den gleichen Bewertungskriterien zu beurteilen. Einige von ihnen sind philosophisch, andere legen allein Wert auf das Handeln, wieder andere bemühen sich darum, einen zeitgenössischen Islam zu präsentieren, indem sie auf seine frühesten Quellen verweisen.

Könnten Sie bitte einige von ihnen beim Namen nennen?

Einige Bewegungen in Indien und Pakistan, z.B. die Shibli- oder die Nadwi-Bewegung, halten die frühen Quellen für geeigneter, um den Menschen Rechtleitung zu bieten. Also handeln sie auch dieser Auffassung entsprechend. Hasan al-Banna, der ebenfalls teilweise von der Schazaliyya geprägt war, gründete die Muslimbruderschaft in Ägypten. Studiert man seine Briefe, wird deutlich, dass er den Iman (Glauben) in den Mittelpunkt stellte. Insofern könnte man sagen, dass die Muslimbrüder der Bewegung in der Türkei ähneln. Allerdings haben die Nachfolger Al-Bannas die Bewegung in die Arena der Politik hinein getrieben.

Wenn man die Religion in den Dienst der Politik stellt, manipuliert man damit die Gefühle der Menschen. Man verhält sich der Religion gegenüber respektlos; deshalb haben die entsprechenden Bewegungen auch keinen Erfolg gehabt. Im Sudan z.B. gab es in der Vergangenheit eine Mahdi-Bewegung. Heute gibt es dort nur noch eine Turabi-Bewegung, die sich durchaus als einen modifizierten Repräsentanten der Mahdi-Bewegung, die von den Briten zerschlagen wurde, bezeichnen lässt. Sowohl Mawdudis Jamaat Islamiyya als auch die Muslimbruderschaft haben im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausprägungen angenommen. Im Vorgehen ihrer Nachfolger stößt man bisweilen auf Formen von Radikalismus; die Gründe dafür müssen analysiert werden.

Hätten Sie eine Analyse parat?

Diese Länder sind erst sehr viel später als wir unabhängig geworden. Man darf sogar behaupten, dass die Türkei ihnen als Modellbeispiel gedient hat. In der Unfreiheit und unter der Tyrannei des Westens haben sie eine Ideologie entwickelt, die ihnen helfen sollte, sich von ihrem Joch zu befreien. Sie gingen davon aus, dass dies nur über den Staat möglich sei, und so gingen ihre ersten Reaktionen und Handlungen dahin, eben diesen Staat zu übernehmen.

Sie sollten sich also in Richtung Türkei oder Ihrer Bewegung orientieren?

Manche bezeichnen diese Bewegung [in der Türkei], die ihre eigenen Leitbilder hervorbringt, als eine Tariqat, als einen religiösen Orden. Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber diese Leute reden einfach etwas daher, ohne zu wissen, wovon sie eigentlich sprechen. Tariqats sind in der Türkei bekanntlich verboten. Heute gibt es nur noch sehr wenige Menschen, die diese Kultur, mit der sie aufgewachsen sind, repräsentieren und bewahren. Sie praktizieren sie im Familien- oder im engen Freundeskreis.

Ich möchte hier noch einen Punkt ansprechen, der nicht direkt mit Ihrer Frage verknüpft ist: Reaktionäre Bewegungen können gar nicht erfolgreich sein, egal wie groß ihre Macht auch sein mag. Es wird ihnen nämlich nie gelingen, ein Gleichgewicht herzustellen. Im Gegenteil richten sie viel Schaden an, da die Menschen durch sie in Extreme verfallen und es immer wieder zu Reaktionen und Gegenreaktionen kommt. Gewalt führt zu Gegengewalt. Auf positives Handeln kommt es an; d.h., dass wir anderen die Essenz einer Sache nahe bringen müssen, und nicht extreme Positionen vertreten dürfen, die zwangsläufig eine Gegenreaktion nach sich ziehen.

Welche Maßstäbe legen Sie hier an?

Bevor sie richtiggehend organisiert wurde, befand sich diese Institution [die Tariqat] in den Händen von tadellosen Individuen wie Abu Yazid al-Bistami, Dschunayd al-Baghdadi, Fudayl ibn Iyaz und Ibrahim Atham. Auch Ghazzali kontrollierte sie. Aber obwohl er das System akzeptierte, gründete er keine eigene Tariqat. Menschen wie Imam Rabbani, die dem System vorstanden, etablierten eine gewisse Hierarchie. In einer Tariqat gibt es zum Beispiel die Scheiche, an die sich wenden muss, wer Mitglied werden möchte. Wenn ein Bewerber für geeignet befunden wird, wird er zu einem Murid, zu einem ,Menschen, der will'. Wird er dann akzeptiert, wird er einem Murschid, einem ,Menschen, der ihn leitet' zugeordnet.

Eine Bewegung, die ihre eigenen Leitbilder hervorbringt, verfügt jedoch weder über ein Mitgliedswesen noch über Schüler. Ich bin in meinem Leben ziemlich viel gereist, aber ich kann nicht von mir behaupten, auch nur einen von tausend dieser Freiwilligen in Sachen Bildung in der Türkei zu kennen. Ich gehe daher davon aus, dass man versucht, sie zu entmutigen und aus der Bewegung auszuschließen, indem man diese Bewegung in die Ecke von etwas gesetzlich Verbotenem stellt. [Anmerkung des Übersetzers: Nach der Gründung der Republik trat am 30. November 1925 ein Gesetz in Kraft, das die Aktivitäten der religiösen Orden in der Türkei untersagte.] Experten mögen ausführliche Analysen dazu erstellen, was eine Tariqat genau ist, was man unter Sufismus zu verstehen hat und ob diese Bewegung jenen zugeordnet werden kann. Aber sie reden sich um den Verstand. Einerseits nennen sie die Bewegung eine Tariqat, andererseits verknüpfen sie ihre Ursprünge mit Said Nursi. Wäre die erste Behauptung zutreffend, dürften sie diese Verbindung nicht herstellen. Denn wohl an über hundert Stellen in seinem Werk hat Said Nursi betont: „Es handelt sich hier um keine Tariqat, sondern um die Wahrheit.

Was meinen Sie damit, „sie reden sich um den Verstand"?

Wie Bulent Ecevit einmal sagte, gebührt den Tariqat ein Platz in unserer Kultur. Selbst wenn man sie verbietet und niemand ihre Rituale pflegt, bedeutet eine Ablehnung der Tariqat eine Verleugnung unserer eigenen Werte. Zu Missbräuchen mag es gekommen sein, aber gibt es in der Türkei denn irgendeine noch so wichtige Institution, in der es noch nie zu Missbräuchen gekommen ist?

Diese Verbindung besteht also nicht?

Said Nursi nennt seine Studenten in einigen seiner Briefe Nurcus, Unterstützer des Lichts. Er hatte offenbar keinen Gedanken daran verschwendet, dass man ihm diese Titulierung eines Tages zum Vorwurf machen könnte. [Anmerkung des Übersetzers: In der türkischen Sprache werden die Suffixe -ci und -cu an Substantive gehängt, um denjenigen zu benennen, der etwas aktiv tut. In diesem Fall bezieht sich Nurcu auf jemanden, der mit Said Nursis Risale-i Nur Bewegung verknüpft wird und aktiv in ihrem Sinne handelt: Nur-cu.) Ich selbst habe viele Male bei unterschiedlichen Gelegenheiten deutlich gemacht, dass ich mich über Bezeichnungen wie Nurcu oder Fethullahci ärgere. Für mich sind dies Bezeichnungen, die einer Spaltung Vorschub leisten. Said Nursi allerdings hat den Begriff Nurcu aus einer anderen Absicht heraus und in einem anderen Zusammenhang verwendet. Er sagte: „Ja, wir sind eine Jamaat, wir sind Mitglieder einer Jamaat, die Jahrhundert für Jahrhundert 350 Millionen Menschen Anhänger hat. Der Koran bietet uns Orientierung, und der Gesandte Gottes ist unser Lehrer." Was er mit dem Begriff Jamaat verbindet, ist, dass alle Muslime sich bei der Verrichtung ihrer Gebete zur Kaaba hin wenden. Auch wenn er seine Studenten Nurcus nannte, weil sie das Risale-i Nur studierten, war der Gebrauch solcher Suffixe für Said Nursi meiner Ansicht nach nicht wesentlich.

Was war ihm denn wichtig?

Zu einer Zeit, in der die Dinge in der Türkei nicht zum Besten standen oder zumindest einige Funktionäre machten, was sie wollten, trat er in seinen Arbeiten für einen Glauben ein, der darin bestand zu handeln, ohne jemanden zu behelligen. Er unterrichtete seine Studenten, indem er ihnen Briefe schrieb. Er sagte, sein Ziel sei es, den Glauben der Menschen zu bewahren, und betonte wiederholt, er unterhalte keine Tariqat. Mit Verweis auf Imam Rabbani unterstrich er: „Die Erläuterung und das Erblühen jedes einzelnen Themas, das mit dem Glauben verknüpft ist, ist den Tausenden von spirituellen Freuden und Wundern, d.h., den Dingen, die der Sufismus anstrebt, vorzuziehen."

Sind Sie diesen Persönlichkeiten, die Sie für wichtig halten, irgendwie verbunden?

Wenn jemand von einem anderen Menschen in Bereichen wie der Wahrheit des Glaubens, den Umgangsformen oder der Priorität der menschlichen Werte profitiert, dann wäre er respektlos und undankbar, wenn er dies nicht zu würdigen wüsste. Auch wenn ich nicht zu 100 Prozent mit ihnen übereinstimme, habe ich alle Werke von Nurettin Topcu und Necip Fazil mit großem Vergnügen gelesen. Schon in früher Jugend habe ich Mehmed Akif mit großem Vergnügen gelesen. Obwohl meine Ausbildung zu einem großen Teil in arabischer Sprache erfolgte, gelang es mir, Ahmed Hilmi, Semsettin Gunaltay und Tanpinar zu lesen und von ihnen zu lernen. Würde ich diese Namen unterschlagen oder ignorieren, dann wäre das ihnen gegenüber respektlos. Aber Said Nursi hat meine Vorstellungswelt ohne Zweifel sehr stark beeinflusst. Weiterhin verdanke ich auch Hamdi Yazir und Mustafa Sabri Vieles. Ich betrachte sie als meine Lehrer.

Diese Bewegung scheint über drei Dimensionen zu verfügen: eine soziologische, eine kulturelle und eine religiöse. Wo liegen ihre Ziele?

Mit dem Erscheinen des Menschen auf Erden nahmen die Probleme ihren Anfang. Alles begann mit dem Fehltritt Adams und wurde dann mit seinen Kindern immer schlimmer. Solange nicht Lösungen gefunden werden, die den Menschen selbst in den Mittelpunkt stellen, werden die Probleme weiter zunehmen. Diese Lösungssuche kann als kulturelle Dimension betrachtet werden.

Inzwischen sind die Gesellschaften dazu übergegangen, an der Basis und unter Beteiligung von möglichst vielen Menschen nach Lösungen zu suchen. Dieser Ansatz ist viel versprechend und hoffentlich von anhaltenderem Erfolg gekrönt als Regierungsinitiativen. Selbst die besten Maßnahmen, die von oben herab für die lokale Ebene beschlossen werden, garantieren nämlich keinen dauerhaften Erfolg. Was zählt, ist allein die Akzeptanz der Maßnahmen [in diesem Fall der Bewegung] durch die Gesellschaft als kulturelle oder moralische Errungenschaften. Heute entwickeln sich die Dinge in diese Richtung. Wenn es gelingt, Resultate hervorzubringen, wird die Opposition derer, die sich immer noch gegen die Bewegung stellen, abflauen - auch wenn uns schon heute völlig unklar ist, warum sie die Bewegung so vehement bekämpfen. Unser Volk ist ein vernünftiges Volk. Diejenigen, die scheinbar gegen alle Vernunft handeln, werden mit der Zeit nur noch in der Minderheit sein. (Ich sage ,scheinbar', denn einige stören sich schon allein an meinem respektvollen Auftreten und daran, dass ich alle Menschen so akzeptiere, wie sie sind.) Dann werden sich die Menschen endlich trauen, diese segensreiche Bewegung zu unterstützen.

Der religiöse Aspekt...

Die Religion, insbesondere der Islam, ist ein natürliches Phänomen. Die Religion spendet der natürlichen Veranlagung des Menschen so viel Kraft wie sonst nichts auf der Welt. Der Glaube, das zentrale Thema der Religion, stellt eine ganz eigene Quelle der Kraft dar. Jeder Mensch kann es mit allem und jedem aufnehmen und alle Probleme überstehen, wenn sein Glaube nur fest genug ist. Allerdings kann die Religion auch zu einem Instrument des Hasses verkommen; nämlich dann, wenn bestimmte Leute darauf pochen, immer nur von ihrem Glauben, ihrer Philosophie und ihrem Verständnis zu reden. Dann besteht die Gefahr, dass die Lehre des Glaubens nicht mehr angemessen vermittelt wird. Der wichtigste Punkt besteht darin, dass wir wahrhafte Gläubige sind, und ein wirklich gläubiger Mensch kann keine zwei Persönlichkeiten besitzen. Mit Yunus Emres Worten gesprochen: „Das, was heraustropft, ist das, was im Innern ist." Wenn es die Religion ist, die heraustropft, wird sie die Menschen beeinflussen.