Die Türkei könnte heute schon viel weiter sein

Wie sehen Sie die Zukunft der Welt und der Türkei?

Soll die Welt eine gute Zukunft haben, werden sich die Gläubigen und vor allem die Muslime in der Türkei sehr gut vorbereiten müssen. Auch in diesem Punkt möchte ich ein Zitat von Bediuzzaman Said Nursi anbringen:

„Die Köpfe sollten von der Wissenschaft der Zivilisation erleuchtet werden, die Herzen vom Licht des Glaubens. Herz und Verstand, die Jahrhunderte lang getrennt waren, sollten wieder vereinigt werden. Die Menschen sollten mit ihren Herzen sehen. Und mit ihrem inneren Herzen sollten sie das Geheimnis um Gott erkennen. Sie müssen mit Gott leben, aber auch - wie die Menschen im Westen - wissen, wie sie das Universum sorgfältig beobachten können. Sie müssen die Welt gut lesen. Und sie müssen die Menschheit lesen. Sie sollten versuchen - und da spreche ich für mein eigenes Volk - ihren Platz in der Welt zu besetzen. Aus meinen persönlichen Gefühlen, Erfahrungen und Gedanken heraus und als Kind einer so starken, bedeutenden Nation möchte ich sagen, dass mich unsere gegenwärtige Situation sehr beunruhigt. In der Welt gibt es die unterschiedlichsten Entwicklungen. Entscheidungen werden gefällt, ein Ort verliert seine Bedeutung, ein anderer wird ,angegriffen' oder ,demokratisiert'. Menschen werden in Ketten gelegt und verschleppt. Aber von unserer Nation wird kein Beitrag verlangt. Unsere Nation wirkt bei diesen Prozessen nicht mit. Man hält sie noch nicht einmal für würdig, das Wort zu ergreifen. Wir glauben, dass es uns gelingt, ein Wort mitzureden, wenn wir nur irgendwo beitreten. Ohne den Grund, irgendwo beizutreten, sind wir nicht in der Lage, etwas zu tun, was uns zu Gute kommt.

Obwohl die Demokratie ein viel versprechendes menschliches System ist, haben wir uns bis heute noch nicht selbst darüber Gedanken gemacht, und wir sind auch noch nicht zu Demokraten geworden. Andere haben uns in dieser Angelegenheit befragt. Einige tausend Klagen sind auf Grund von Demokratie- und Menschenrechtsverletzungen gegen uns eingereicht worden. Wie schön wäre es, wenn wir uns in einer solchen Türkei selbstständig und nach eigenem Ermessen Gedanken über Fragen der Menschenrechte, der Gewissens-, der Rede- und der Gedankenfreiheit oder auch der Freiheit, andere Menschen ihr eigenes Leben leben zu lassen, machen würden. Aber wir schaffen es nicht zu sagen: „Lasst uns diese Themen in einer Gesellschaft mit gemeinsamen Interessen nicht zum Gegenstand von Auseinandersetzungen machen." Stattdessen versuchen wir zwar, diese Dinge zu tun, benötigen aber den Beitritt zur Europäischen Union als Ansporn. Diese Haltung empfinde ich als eine große Schmach. Sie erzeugt das Gefühl, wir seien eine ziemlich unbedeutende Nation, die die Weltbühne erst gestern betreten hat. Das beleidigt mich. Wir schweben irgendwo im Gleichgewicht der Staaten. Man hat uns zu Verbündeten gemacht, und einige Ungerechtigkeiten wurden mit unserer Hilfe beseitigt. Aber nun, wenn es darum geht, unser Recht einzufordern, sollen wir uns irgendwo anlehnen. Man denkt sich: „Ich frage mich, ob wir uns den USA, Europa oder Russland zuwenden sollen." Dabei muss diese Nation sie selbst sein; sie muss sich selbst aufrichten. Sie muss ihre Probleme allein lösen.

Beim Thema Gedankenaustausch haben Sie mir Ihre Beobachtung geschildert, dass einige Freunde von mir ihre Überlegungen nicht offen kundtun, dass sie möglicherweise den Idschtihad [den Prozess der Entscheidungsfällung durch eine unabhängige Interpretation der Quellen] fehl interpretieren, dass sie mich vielleicht unbeabsichtigt in einen engen Kreis zwängen, weil sie mir zu viel Respekt entgegenbringen. Was dieses Interview betrifft, würde ich dieser Einschätzung nicht zustimmen, denn das wäre Ihnen gegenüber unhöflich. Für die Türkei hingegen trifft es absolut zu. In der Türkei können sich die Menschen nicht frei äußern. Wir könnten eine andere Demokratie haben, eine Demokratie mit einer Dimension des Lebens nach dem Tode; eine Demokratie mit einer Tür, die jener anderen Dimension offen stünde. Eine Demokratie sollte auf meine Wünsche in Bezug auf die Ewigkeit eingehen. Sonst fehlt ihr etwas. Denn auf ihnen beruht meine Ganzheit als Mensch. Wenn jedoch gar nichts über meine Ganzheit verlautet, ist das ein Versäumnis der Demokratie. In der Türkei sind diese Art Versäumnisse noch immer nicht aufgearbeitet. Menschen werden wie Verbrecher verfolgt, nur weil sie dies offen aussprechen oder weil die Möglichkeit besteht, dass sie es aussprechen. Man wünscht sich dort, dass die Leute ins Exil geschickt werden. Meiner bescheidenen Meinung nach ist die Türkei längst noch nicht dort, wo sie sein sollte.

Die Türken sind nicht dumm. Selbst hier [in Amerika] sitzen türkische Intellektuelle und Wissenschaftler an wichtigen Stellen und haben dort Verantwortung übernommen. Dank des gesellschaftlichen Systems hier strahlen sie wie Sterne. Türkische Studenten kommen hierhin und gewinnen Olympiaden [des Wissens]. Glücklicherweise haben diese Triumphe meine Befürchtung, wir seien nicht in der Lage, irgendetwas zu leisten, zunichte gemacht. Die Köpfe unseres Volkes sind nicht minderwertig. Sie könnten sogar die Welt lenken. Doch stattdessen versuchen wir ständig, den Gedanken, uns an dieses oder jenes anlehnen zu müssen, am Leben zu erhalten. Es ist an der Zeit, dass wir uns von der Verstellung, nur mit Hilfe von anderen aufrecht stehen zu können, verabschieden. Wir sollten uns darum bemühen, uns aufzurichten. Selbst behinderten Menschen empfiehlt man doch: „Versuch aufzustehen!" Dann legen sie ihre Krücken ab und beginnen, auf den eigenen Füßen zu stehen. Leider ist einer winzigen Minderheit von Oligarchen der Gedanke unerträglich, dass die Menschen sie selbst sein wollen. Wer auch immer diese Leute sind und was auch immer sie denken, sie verdunkeln die Zukunft, indem sie die Gesellschaft in die Grenzen ihrer eigenen Beschränktheit zwingen.

Welches Wort würde ihre Anwesenheit in den USA am besten beschreiben: Exil, Migration oder Flucht?

Entscheidend ist die Absicht. Ich ging hier ins Krankenhaus, um eine Kontrolluntersuchung vornehmen zu lassen und mich von meiner Krankheit zu erholen. Deshalb würde ich nicht sagen, dass ich auf Grund meines Denkens und meiner Kultur oder auf Grund des Bedürfnisses, diesen Ausdruck zu verleihen, hierher gekommen bin. Dazu wäre ich auch derzeit gar nicht in der Lage, denn ich sehe keine anderen Menschen. Ich wünschte, ich wäre mit einer solchen Absicht gekommen. Ich wünschte, ich hätte, wie einst Bediuzzaman Said Nursi, die Chance, etwas über die 5.000 Jahre alte Kultur meiner Nation zu erzählen. Ich wünschte, ich hätte versucht, Seminare an verschiedenen Orten abzuhalten, und an Konferenzen teilgenommen. Ich war eingeladen, aber ich konnte nicht hinfahren. Für irgendeine Konferenz habe ich ein Papier vorbereitet. Vor kurzem hat man in Barcelona ein Thesenpapier verlangt. Ich habe ein knappes Schreiben verfasst und es dann zurückgezogen. Ich bin kein Mensch, der so etwas macht. Und trotzdem bestehen viele Menschen aus vielen verschiedenen Regionen darauf: „Um des Weltfriedens, der Toleranz und des Dialoges willen solltest du dich ihnen anschließen." Ich zögere immer, und ich sage nie: „Der Allmächtige Gott hat meine Bemühungen belohnt." Das würde ich als Schirk [als Versuch, Gott Partner beizugesellen] betrachten. Gott ist Derjenige, der handelt. In der Türkei ist es jedoch so, dass wenn ein Mensch eine gute Tat vollbringt, einige seiner Mitmenschen dies nicht verdauen können und alle Erträge für sich behalten wollen. Sie fühlen sich dann angegriffen. Wenn jemand mich einen Helden des Friedens nennen würde, würden sie wahrscheinlich an einem Herzinfarkt sterben. All dies muss ich mit berücksichtigen. Deshalb kann ich nicht von mir behaupten, hier ,im Dienst' zu sein. Ich kam zur Behandlung hierher und sehe gute Gründe, auch noch länger hier zu bleiben. Ich kann andere Menschen nicht verletzen. Dazu bin ich nicht in der Lage. Ich habe keine Krallen, ich kann nicht kratzen. Sie beißen und kommen damit durch. Sie kratzen und haben mich an einigen Stellen verletzt. Sie sprechen, um meine Ehre, meinen Stolz zu verletzen. Ich habe eine Religion, an der mir liegt. Ich habe ein Leben, in dem ich niemandem etwas schulde. Aber die andere Seite erkennt menschliche Werte überhaupt nicht an. Es ist ihnen gar nicht bewusst, dass sie auch menschliche Werte verletzen, wenn sie auf mir herum trampeln. Aus diesem Grunde möchte ich einen besseren Zeitpunkt abwarten. In der Zwischenzeit sitze ich hier und denke mir: „Sie wissen es nicht besser, aber zumindest sollte ich ihnen nicht gestatten, mich zu beunruhigen, zu demütigen oder auf mir herum zu trampeln. Solange die Amerikaner nicht sagen: „Verlass das Land!", werde ich darauf warten, dass sich die Atmosphäre in der Türkei ein wenig beruhigt. Jetzt sage ich: „Ich kam als Auswanderer. Wenigstens wird dies [im Islam] belohnt." So treffe ich mich mit einigen, wenn auch wenigen Freunden, die kommen, um mich zu sehen.

Passt das Wort Exil zu Ihrer Seele?

Wenn ich Langeweile habe, spreche ich von Exil und finde Trost darin. Einige der wertvollsten Menschen in der Welt wurden ins Exil verbannt. Selbst Abdulhamid, der sein Land sehr liebte, wurde ins Exil verbannt. Mehmet Akif [Ersoy], Namik Kemal... viele Menschen haben im Exil gelebt. Ich halte es auch für unangemessen, diese Menschen Außenseiter zu nennen oder zu behaupten, sie gehörten zur ,anderen Seite'. Auch Trotzky lebte auf Grund seiner Ansichten in Mexiko im Exil.

Gäbe es in der Türkei eine öffentliche Umfrage, würden viele Menschen sagen, dass sie mich lieben. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste. Ich bin kein Dieb oder etwas Ähnliches. Gott sei Dank, habe ich keinen Bissen zu mir genommen, der haram [verboten] gewesen wäre. Ich habe nicht gestohlen. [Dies gilt auch für meine Familie.] Die Lage meiner Brüder ist klar. Sie gehen einer Arbeit nach. Ich habe eine große Familie. Ich möchte, dass meine Brüder so bleiben, wie sie sind. Und obwohl ich so bin, bringt man mich mit verschiedenen Dingen in Zusammenhang. Ich muss sagen, dass dies mich verletzt, dass es mir Leid tut und dass mein Inneres blutet.

Auf welche Art Zeichen warten Sie, bevor Sie zurückkehren? Warten Sie darauf, dass sich der gegenwärtige Nebel verzieht?

Meine Gesundheit erlaubt es nicht, dass ich mir solche Dinge anhöre. Hier habe ich keine Probleme. Ich bin ein für sich allein lebender Mensch. Ich bin Diabetiker und esse nur wenig. Ich brauche nicht viel, um zufrieden zu sein. Gott hat mir gestattet, 40-50 Bücher zu schreiben, von deren Tantiemen ich lebe. In dieser Hinsicht habe ich keine Probleme. Ich ziehe mich dorthin zurück, wo es mir möglich ist. Solange die Wasser getrübt sind, möchte ich nicht der Grund für weiteren Wirbel in der Türkei sein. Es gibt viele Menschen, die darauf warten, dass die Sur zum Angriff gegen mich geblasen wird.