Islamischer Gelehrter zum führenden Denker der Welt gewählt

Steht die von Fethullah Gülen repräsentierte Bewegung für eine neue Form des Islams, oder versucht sie lediglich, die säkulare Türkei zu unterwandern? Riazat Butt, Korrespondent der Zeitschrift The Guardian für religiöse Themen, berichtet aus Istanbul.

Fethullah Gülen, ein bislang unbekannter islamischer Gelehrter, ist in einer Umfrage zu den führenden Intellektuellen der Welt unter 100 Kandidaten auf Rang 1 gewählt worden. Gülen, Autor von über 60 Büchern, feierte einen wahren Erdrutschsieg. Die Umfrage wurde von der britischen Zeitschrift Prospect und der amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy organisiert, insgesamt wurden über 500.000 Stimmen abgegeben. Auf den vorderen Rängen lagen ausschließlich Muslime, unter ihnen die beiden Nobelpreisträger Orhan Pamuk auf Rang 4 und die iranische Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi auf Rang 10.

Die Organisatoren der Umfrage waren von dem Ergebnis überrascht und führten es darauf zurück, dass die auflagenstärkste Tageszeitung in der Türkei, die Zaman, Gülens Anhänger mobilisieren konnte.

David Goohart, der Herausgeber von Prospect, gestand, vorher noch nie von Gülen gehört zu haben, und wandte ein, Gülens Anhänger hätten „ihren Spott mit der Umfrage getrieben“. Er fügte jedoch hinzu, das Ergebnis spiegle gleichzeitig einen wichtigen politischen Trend in der Türkei wider. Gülens Sieg lenke die Aufmerksamkeit auf den brisantesten Konflikt in Europa, der in der Türkei zwischen dem säkularen nationalistischen Establishment und den islamischen Reformern der AKP (der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) ausgefochten wird. Die AKP sieht sich mit einer Klage des türkischen Generalstaatsanwalts konfrontiert, die das Verbot der Partei und ihre Verbannung aus der Politik verlangt, weil sie die säkulare Verfassung des Landes untergrabe und darauf abziele, das islamische Recht zu verankern.

Bulent Kenes, Anhänger Gülens und Chefredakteur der Zeitung Zaman, bestritt, dass die Umfrage missbraucht wurde. „Es gibt viele Menschen, die sich für Gülens Gedanken starkmachen. Denn mit seinem Eintreten für Dialog und Toleranz auf internationaler Ebene, steht Gülen für den Weltfrieden.“ Dem Bericht der Zeitung The Guardian zufolge ist der 67-jährige Gülen ein Erneuerer des Islams. 2006 wurde er von dem Vorwurf freigesprochen, Kassetten in Umlauf gebracht zu haben, auf denen er Beamte dazu auffordert, seine Befehle zu Übernahme des Staates entgegenzunehmen. Gülen machte geltend, das Filmmaterial sei zusammengeschnitten worden.

Seit 1998 lebt Gülen in den USA. Zu seinen Verdiensten zählt, ein weltweites Netzwerk von Schulen geknüpft zu haben, die den Islam im Geiste der Toleranz lehren. Im Westen wurde er dafür gelobt, den Dialog zu fördern und Osama bin Laden nach den Vorfällen des 11. Septembers ein Monster genannt zu haben.