Grundlagen des Sufismus (Qalaq-Leidenschaft)

Grundlagen des Sufismus (Qalaq-Leidenschaft)Wörtlich genommen bedeutet Qalaq (Leidenschaft), des Ortes, an dem man sich gerade befindet, und der Bedingungen, die man mit ihm verbindet, überdrüssig zu sein oder Unbehagen zu empfinden, ganz als befände man sich in Gefangenschaft oder in Haft. Der Begriff bezeichnet aber auch eine heftige, ungeduldige Liebe, die tiefer geht als die Sehnsucht nach dem Paradies, die der gewöhnliche Gläubige verspürt, die stärker ist als die Gefühle, die die Gotteserkenntnis den Sufimeistern eingibt, und auch leidenschaftlicher als die Liebe des gewöhnlichen Liebenden zu seinem (seiner) Geliebten. Das Ertragen dieser heftigen Liebe raubt dem Eingeweihten alle Kraft. Er entdeckt dann an den Horizonten des Kerns seiner inneren Welt den Schimmer des Aufflackerns einer Begegnung mit dem Geliebten; er spürt sein Herz mit dem Gedanken schlagen, dass es nichts Wichtigeres gibt, als das Wohlgefallen Gottes zu erlangen. (9:72) Der Prophet Moses fasst das Ungestüm dieser Leidenschaft, die mit ihrem Verlangen nach Vereinigung jede Geduld zu Asche verbrennt, in folgende Worte, die seine unermessliche Sehnsucht nach einer Begegnung mit seinem Herrn enthüllen:

Ich habe mich beeilt, um bald bei Dir zu sein, damit Du wohl zufrieden sein mögest mit Mir. (20:84)

Eine andere Form der Leidenschaft manifestiert sich im Kummer der sinnlichen Liebe, die ein Mensch für einen Menschen anderen Geschlechts empfindet. Die Quelle dieses Kummers liegt in der Angst, dass der geliebte Mensch noch andere Verehrer haben könnte. Dschami beschreibt diese Leidenschaft so:

Wenn mir jemand sagt, er sei verliebt,
so beschert mir das Kummer und Leid.
Denn dann wird mir bange, es könnte meine Geliebte sein, die er liebt.

Diese Form der Leidenschaft darf jedoch nicht mit der Leidenschaft eines Eingeweihten auf seiner Reise zu Gott verwechselt werden. Denn jede Freude und jedes Leid, die sein Weg für ihn bereithält, wird um Gottes willen empfunden und hat in Ihm ihren Ursprung. In diesem Sinne besitzen selbst Kummer und Leid des Reisenden auf den Pfaden Gottes einen süßen Kern, während seine Genüsse ihm so angenehm sind wie das Wasser im Paradies. Wenn die Sehnsucht, mit dem Geliebten zusammenzutreffen, ganz und gar unerträglich wird, verbleibt nichts mehr im Herzen als das Verlangen nach Vereinigung. Es kommt sogar vor, dass dann die Liebe selbst kaum eine Rolle mehr spielt und die Suchenden, dem Grad ihrer Leidenschaft entsprechend, zu den folgenden Zuständen vorstoßen:

Diese Form der Leidenschaft darf jedoch nicht mit der Leidenschaft eines Eingeweihten auf seiner Reise zu Gott verwechselt werden. Denn jede Freude und jedes Leid, die sein Weg für ihn bereithält, wird um Gottes willen empfunden und hat in Ihm ihren Ursprung. In diesem Sinne besitzen selbst Kummer und Leid des Reisenden auf den Pfaden Gottes einen süßen Kern, während seine Genüsse ihm so angenehm sind wie das Wasser im Paradies. Wenn die Sehnsucht, mit dem Geliebten zusammenzutreffen, ganz und gar unerträglich wird, verbleibt nichts mehr im Herzen als das Verlangen nach Vereinigung. Es kommt sogar vor, dass dann die Liebe selbst kaum eine Rolle mehr spielt und die Suchenden, dem Grad ihrer Leidenschaft entsprechend, zu den folgenden Zuständen vorstoßen:

* Alles beginnt den Suchenden zu ermüden, die einen Dinge mehr, die anderen weniger. Manchmal verspürt sein Herz das Verlangen nach Vereinigung mit Ihm, dann wieder brennt es vor Sehnsucht, zu sterben und Ihm zu begegnen. Dieses Feuer lodert so stark, dass der Suchende nichts anderes als Ihn mehr sieht.

* Obwohl der Suchende seinen Körper nicht abstreifen kann und nach wie vor auch körperliche Gelüste verspürt, geht er so sehr im spirituellen Leben auf, dass weder sein Verstand noch seine Willenskraft ihn zu zügeln oder zu lenken vermögen. Infolgedessen gerät er bei Angelegenheiten, die einen gesunden Menschenverstand und Scharfblick erfordern, in Verwirrung:

Ich habe mich nicht wiedererkannt,
so wie ich mich jetzt sehe; ich frage mich:
Ist Er ich, oder bin ich Er?

Nicht nur in der Verrichtung der Pflichten von Anbetung und Gehorsam gegen Gott, sondern auch in weltlichen Dingen reist der Suchende nun an den Horizonten des deutlichen Erkennens der Zeichen Gottes.

Wenn der Schleier zwischen einem Helden der Leidenschaft und dem Geliebten ein wenig gelüftet wird, sodass sich endlich zumindest ein Teil des Weges zur Vereinigung abzeichnet, gelangt der Eingeweihte in einen spirituellen Zustand, wo er von einem Feuer ergriffen wird, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Er denkt dann an nichts anderes mehr außer an die Begegnung mit dem Wahrhaft Geliebten Einen. Der Liebende ist dann nicht länger nur Liebender, sondern wird auch geliebt. Er will und wird gewollt, er ist Suchender und wird gesucht.

Bevor dem Gesandten Gottes die erste Offenbarung zuteilwurde, befand er sich wahrscheinlich in einem Zustand, der ihn die beiden oben beschriebenen Formen der Leidenschaft erfahren ließ. Einige Verse aus einem langen Gedicht von Yazicizade Mehmed Effendi1 bringen diese Tatsache in einer schlichten und ungekünstelten Sprache zum Ausdruck:

Warum bist du so traurig?
Warum ist deine innere Welt von Trübsal vernebelt?

* * *

Ohne ihnen zu antworten, wandte er sich ab,
ging dorthin, wo er gestanden hatte, und schüttete dem Allmächtigen sein Herz aus.

* * *

Er sagte: „Mein Herz fließt über vor Liebe und Verlangen, meine Seele steht in Flammen.
Warum fließen mir diese Tränen aus den Augen, o Du Unendlicher alles Beherrschender?
Ich habe meine Gelassenheit verloren, bin am Ende meiner Geduld.
Was soll ich meinem Geliebten sagen? Ich habe nicht die Kraft, all dies zu ertragen.“

* * *

Er stieg auf den Berg, warf sich dort nieder und legte den Kopf auf die Erde;
er weinte und flehte zu Gott: „O du Ewiger!“
Da sahen ihn die Engel und hatten Mitleid mit ihm,
und die Jungfrauen des Paradieses vergossen Tränen:
„O Gott, Dein Geliebter hat seinen aufrechten Körper gekrümmt.“

Auch viele Gefährten des Gesandten Gottes haben dieses Bewusstsein zum Ausdruck gebracht: Um nur ein Beispiel zu nennen: „Morgen [im Jenseits] werde ich mich den Freunden anschließen - Muhammad und seinen Gefährten.“2

Niemand hat je eine größere Leidenschaft verspürt als der Meister der Geschöpfe. Zu einer Zeit, als sich die Welt ihm mit all ihrer Pracht und in vollem Glanz darbot, sagte er als das bedeutendste aller Geschöpfe, als jemand, der seine Pflicht vollständig erfüllt hatte und nun seine Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Wahrhaft Geliebten Einen formulieren durfte: O mein Gott! (Nun ist die Zeit gekommen aufzubrechen) zum Höchsten Freund!3 Dann wandte er sich mit dem Wunsch, zu tun, was aufgrund seines Ranges, von Gott geliebt zu werden, von ihm verlangt wurde, und seinem ganzen Wesen dem Einzig Geliebten Einen zu. Indem er bewies, dass der Rang, von Gott geliebt zu werden, allein ihm vorbehalten war, durchkreuzte er die Linien von Abstieg und Aufstieg.4 Er war nicht länger Muhammad, sondern verwandelte sich in Ahmad5 und nahm nun in jeder Hinsicht wahr, dass er alles, was er besaß und erreicht hatte, Gott verdankte.

Möge ihm und seiner Familie das ganze Maß der vollkommenen Gnade von Himmeln und Erde zuteilwerden!

Anmerkungen

1. Mehmed ibn Salih Yazicizade (gest. 1451) war Autor des Buches Muhammadiya. Sein Grab befindet sich in Canakkale, Türkei. [Anm. des Übers.]
2. Ahmad ibn Hanbal, Musnad, 3:223, 262
3. Bukhari, Marda’, 19; Muslim, Salam, 46
4. Wenn ein Mensch aus der Welt der Geistwesen in diese Welt kommt, dann ist dies sein Abstieg. Das Leben in dieser Welt, das mit dem Tod endet, und die nachfolgenden Ereignisse bis zum Eintritt ins Paradies - der Rückkehr zu Gott - sind sein Aufstieg. [Anm. des Übers.]
5. Bevor der Gesandte Gottes in die Welt kam, war sein Name Ahmad. Schon der Prophet Jesus hatte sein Erscheinen unter diesem Namen angekündigt. (61:6) Zu seinen Lebzeiten und auch während seiner Mission wurde der Prophet Muhammad genannt, in der anderen Welt nach seinem Tod dann wieder Ahmad. In der Sufiterminologie wird unterschieden zwischen der Realität seines Ahmad-Seins (Haqiqat al-Ahmadiya) und der Realität seines Muhammad-Seins (Haqiqat al-Muhammadiya). Beide Realitäten weisen bestimmte besondere Merkmale auf. [Anm. des Übers.]