Unsere Lebensphilosophie

Unsere Lebensphilosophie

Manche Menschen leben, ohne groß nachzudenken. Andere denken am laufenden Band, versäumen es aber, ihre Gedanken in die Tat umzusetzen. Ideal wäre es, sein Denken in die Tat umzusetzen und im Zuge dessen neue Gedankenkombinationen zu entwickeln und neuen Gedankenansätzen gegenüber offen zu sein. Menschen, die unbewusst leben, ohne nachzudenken, gleichen Figuren auf dem Schachbrett der Lebensphilosophie anderer. Sie lassen sich schablonenhaft immer wieder in neue Formen pressen, schwanken zeit ihres Lebens zwischen Emotionen und Vernunft hin und her, erleben eine Dekadenz bezüglich ihrer Persönlichkeit, reiben sich zwischen Sein und Schein auf und sind niemals sie selbst. Von Zeit zu Zeit ziehen sie Nutzen aus den Errungenschaften der Gesellschaft und hin und wieder erhaschen sie auch den Wind ihnen ähnlicher Ansichten – und denken, dies seien ihre eigenen Anschauungen, ihrem eigenen Bewusstsein oder Willen entsprungen. Es ist ihnen aber versagt, ihre Seelen durch bewusste Anstrengungen und Tugenden zur Ruhe zu bringen, anzuregen und zur Unendlichkeit hin anzuleiten. Sie gleichen immerdar unfruchtbaren, öden, stehenden und unangenehm riechenden Gewässern. Nicht nur dass es ihnen an Vitalität mangelt, sie entwickeln sich für ihr Umfeld mit der Zeit unvermeidlich zu einer Quelle, von der lediglich Schaden und Destruktives ausgeht.

Ihre Gedanken sind so flach, ihre Ansichten so oberflächlich, sie ahmen wie kleine Kinder alles nach, was sie sehen und hören, fallen von einem Extrem ins andere und finden in all ihrer Rastlosigkeit keinen Moment der Stille, um in sich hineinzuhorchen, sich selbst wahrzunehmen und ihre eigenen Werte zu entdecken. Sie nehmen noch nicht einmal wahr, dass auch sie gewisse Werte haben. Sie leben ihr Leben wie Sklaven, gefangen in ihren materiellen und physischen Fesseln, ohne zu bemerken, dass sie eigentlich frei sind. Jede Gelegenheit, die sich ihnen bietet, wird von ihnen auf ihre materiellen Aspekte reduziert und von dieser Warte aus bewertet. So degradieren sie die größten Gunstbezeugungen Gottes für die Menschheit, das Herz, den freien Willen, die Emotionen[1] und das Bewusstsein zu wertlosen Hilfsmitteln, ihre fleischlichen Gelüste zu befriedigen, um zeitlebens dem Lebensstil eines ausschweifenden Menschen zu frönen. Den Hauptantrieb ihres Treibens und Wirkens bilden gesellschaftlicher Status, öffentliches Ansehen, Ruhm, der eigene Vorteil und die Gier nach dem weltlichen Leben. Bewusst oder unbewusst verfangen sie sich täglich in einem oder mehreren dieser mörderischen Netze und töten so ihren Geist mehrfach auf das Entsetzlichste.

Solche Menschen haben weder ein Gestern noch ein Morgen; sie sagen wie Omar Khayyam[2]:

„Vergangenheit und Zukunft sind ein Märchen, ein Gedicht
Vergnüg’ dich allzeit, vergeud’ dein Leben nicht“,

und leben trotz ihrer menschlichen Gefühle und Fähigkeiten animalisch, grasen die Welt wie eine Wiese, wie ein Weideland ab. Sie schlagen in diesem Sumpf des Unrats erregt um sich und versuchen sich über Wasser zu halten. Menschen hingegen, die ihr Leben bewusst leben und einteilen, die jeden Tag und jede Stunde ihres Lebens zu neuen Ufern und Häfen frischer Gedanken aufbrechen, verbringen ihr Leben in einem Zustand des Überzeitlichen, der Faszinationen, Überraschungen und magische Momente für sie bereithält; denn zum einen trinken sie aus der gesegneten Quelle der Vergangenheit, sie saugen deren Duft in sich auf und studieren die Vergangenheit eingehend wie ein Buch, und zum anderen schreiten sie so ausgerüstet der Zukunft entgegen und sind bereit, sie mit der ganzen Wärme ihres Herzens anzunehmen, ihr voller Hoffnung eine neue Farbe zu schenken und sie mit Entschlossenheit und Willensstärke zu formen. Den Zeitabschnitt, in dem sie sich befinden, nutzen sie als Strategiezentrum ihrer hohen Ideale, als Werkstatt, um die dafür nötigen Technologien zu entwickeln, und als Brücke zwischen Theorie und Praxis und sind bemüht, stets frei von Bindung an Zeit und Ort zu sein.

Während sie das Sein und die Zeit aus einer solchen Perspektive bewerten, lösen sie sich gleichzeitig von der Enge des materiellen, physischen Lebens, öffnen sich der Weite der Gefühls- und Gedankenwelten und wandeln in diesem vergänglichen, zeitlichen Leben auf den zur Unendlichkeit hin offenen Hängen ewiger Dimensionen einer anderen Welt. Ihre Gedanken, ihre Gefühle, auch ihre Hoffnungen haben währenddessen stets die Ewigkeit im Blick, sie leben mit der Ewigkeit im Herzen. Die Weiten göttlicher Erkenntnis in die Tiefen ihres Herzens eingraviert, richten sie ihren Blick auf den Reichtum des menschlichen Seins und trachten danach, mit den Netzen ihres Herzens Erstaunliches zu erbeuten – Dinge, die kein Auge sehen, kein Ohr hören und keine menschliche Fantasie sich je vorstellen könnte. So zeigen ihnen ihr exzellenter Bildungsgrad, ihre Gotteserkenntnis und ihre Kompetenzen eine weit höhere Erkenntnisstufe, eine Stufe, die über allem Vorstellbaren steht, und verheißen jedem Einzelnen von ihnen, in himmlische Gefilde einzugehen. Menschen, die so denken und leben, deren Leben einem dichten Wald voller Gedanken gleicht, mag man Männer der Weisheit oder Helden der wahren, rechtleitenden Philosophie nennen. Ganz gleich, welche Namen man ihnen gibt und wie man sie genauer definiert, sind die Menschen, die von der Antike bis zum heutigen Tage die Geschichte der Menschheit mit ihrer Sensibilität und Feinheit geprägt haben, stets aus der Mitte dieser großen Geister erstanden. Auch die Glaubenssysteme, die weniger einer religiösen als vielmehr einer philosophischen Lehre gleichen, wie der Brahmanismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus und der Zarathustrismus, sind ein Geschenk dieser Helden des Intellekts und des Geistes für die Menschheit.

Im Rauschen des unendlich langen Stroms der Ideen der Vergangenheit hört man stets die Kompositionen dieser Geistesgrößen heraus. Sowohl in der Alten als auch in der Neuen Welt sind an verschiedenen Orten auf der Erde unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensentwürfe entstanden; und auch diese Ozeane der universellen Zivilisation und des kulturellen Reichtums waren zu allen Zeiten die geistige Frucht dieser Helden. Man kann ohne Weiteres sagen, dass ein Großteil der Weltbevölkerung – auch wenn es mit ihrem heutigen Lebensstil nicht in Einklang zu bringen ist – trotz aller Veränderung, Verzerrung und Entfremdung ihrer selbst diesem alten Geist, der Bedeutung und dem Sinn des Lebens immer noch auf der Spur ist. Und bis sie die Helden gefunden haben, die ihren Werten treu geblieben sind, wird dieser Zustand der Entfremdung, der auf einer wohlgesinnten und wohlmeinenden Fehlinterpretation basiert, fortbestehen.

Unsere Aufgabe in diesem Zusammenhang ist es, uns für eine Erneuerung zu wappnen, während wir fest zu den Wurzeln unseres geistigen Wesens stehen, und Helden zum Leben zu erwecken, die es verstehen, aus ihren eigenen Werten heraus sich selbst fortwährend zu veredeln, die die Worte der Vergangenheit, ohne sich ablenken zu lassen, im Hinblick auf die Gegenwart interpretierend wieder erklingen lassen und unsere Herzen jedes Mal mit einer anderen Färbung in Begeisterung versetzen. Es ist wohl nicht zu vermeiden, dass wir bis zu dem Tag, an dem wir solche Geistesgrößen hervorgebracht haben, unter den Händen unfähiger Untergebener fremder Ideologien zugrunde gehen. In der Zwischenzeit wird natürlich die ganze Menschheit anstelle der ewigen und universellen Werte, die sie verzweifelt mit ihrem Gewissen sucht und mit ihrem Verstand irgendwie nicht findet, vergeblich versuchen, die Leere mit eigenen überkommenen Legenden aus alten Zeiten auszufüllen. Aus ihrem Gefühl der Unzufriedenheit werden sie von einer geistigen Krise erfasst, die sie fortwährend einem Prozess der Selbstzerstörung aussetzt.

Der Umstand, dass wir seit einigen Jahrhunderten kein eigenes Gedankensystem, keine eigene Lebensphilosophie haben, die sich auf die Dynamiken des Islams gründet – die letztlich die Wurzeln unserer kulturellen Identität bilden –, führte dazu, dass wir zusammen mit einer riesigen, von uns abhängigen Weltregion einen geistigen und kulturellen Niedergang erlitten haben.

Wir müssen die Gedankenwelt und philosophischen Systeme el-Kindis, el-Farabis, Averroes’ (Ibn Ruschd) und in gewissem Sinn auch Avicennas (Ibn Sina), die als Vermittler der sich aus den Anschauungen des Aristoteles speisenden griechischen Philosophie gelten, von unserem Buch der Weisheit trennen, von seiner in göttlichen Offenbarungen wurzelnden Gedankenwelt und Lebensphilosophie, die unendlich alt und trotzdem so aktuell ist, dass sich jede Generation in jedem Jahrhundert darin verstanden fühlen kann. In unserer Ideenwelt geht es um Interpretationen und um ein Verständnis, das vom Wesen Gottes und seiner Allmacht über die Sphäre der Engel in die Welt des Menschen herabgesandt wird, dessen Ursprung klar und eindeutig ist und das auf der Wahrheit der Schöpfung gründet. Wenn solch eine Interpretation und Auslegung in seinem eigenen Sinnzusammenhang mit der eigenen Vernunft nachvollzogen werden kann, wird es auch heute möglich sein, ein eigenes Gedankensystem zu entwickeln, das gleichzeitig bereichernde Wege zu ernstzunehmenden globalen Erneuerungen eröffnen wird.

Seit der Zeit Mehmed II. bis heute gab es im Hinblick auf ein solches Gedankensystem eine Reihe von Versuchen, die aber nie zu einem befriedigenden Ergebnis führten. Auch wenn man darüber diskutieren kann, kann man sagen, dass es nicht anders war. Von Hodschazade Mesud Efendi[3] bis hin zu Molla Zeyrek[4] von Mustafa Reschid Pascha[5] und den Architekten des Konstitutionalismus[6] bis hin zu den intellektuell Schaffenden der Neuzeit haben sich viele aufrichtige oder weniger aufrichtige Personen bemüht, eine Antwort auf die Suche und die Erwartung des Gewissens der Öffentlichkeit zu geben. Jedoch verfingen sich einige in dem Disput zwischen Averroes (Ibn Ruschd) und El-Ghazali über die Rolle der Philosophie im Islam, andere gingen in der Französischen Revolution und dem Strudel Auguste Comtes unter; wieder andere vergeudeten ihre Zeit mit den Fantastereien Durkheims. Man hatte zwar die Bestrebung, etwas in Bewegung zu setzen, aber entweder hat man die realen Gegebenheiten der Ära, in der man lebte, nicht ausreichend berücksichtigt oder man saß lediglich Fantasien auf bzw. hat Neigungen und Begierden vergöttert und weihte dabei kopflos tausend Jahre alte Werte dem Untergang. Wenn wir doch heute nur in der Lage wären, diese negativen, dekadenten Haltungen zu überwinden! Ach, wie schade! Es ist bedauernswert, aber ich kann wirklich nicht behaupten, dass wir an dieser Stelle immer gänzlich nur positiv denken. Wie sehr ich mir wünsche, wir könnten diese negativen Ansätze überwinden und ein aus unseren eigenen Quellen gespeistes System von Gedanken, eine Philosophie entwickeln, die unserem kulturellen Wesen entspricht!

Hierzu möchte ich gleich Folgendes anmerken: Unsere Wahrnehmung, Interpretation und unser Blickwinkel auf das Dasein sind unterschiedlich. Wenn wir daher kein festes gedankliches Fundament und kein derartiges philosophisches System haben, auf dem wir alles aufbauen und das als eine Art Basis unserer Gedanken dient, werden sich unsere Ansichten ständig widersprechen und wir werden uns im Netz von Konflikten und gegenseitigen Angriffen verstricken und verzehren. Unser Heute und auch unser Morgen gehören erst dann uns, wenn wir es schaffen, mit Hilfe einer solchen Methode und eines solchen Systems eine Art ‚Stil-Tradition‘ zu entwickeln, an der alle Generationen teilhaben können. Sollten wir in unseren Gefühlen, Gedanken und Grundwerten keinen solchen Konsens erreichen, wird unser Reden über Einheit und Einigkeit nichts anderes als das Vortragen heroischer Wünsche und Absichten sein. Ganz gleich, welches System man nimmt, Denkmuster, Anschauungen, Urteilsfähigkeit und Errungenschaften des Geistes der jeweiligen heimischen Kultur spielen eine wichtige Rolle. In dem Maße, in dem dieses Gedankensystem aus dem Verstand, Gewissen und der emotionalen Welt der eigenen Kultur entspringt, kann ein Grundkonsens in Bereichen wie emotionale Wahrnehmung, Vernunft, Urteilsfähigkeit sowie die Leichtigkeit des gemeinsamen Lebens in einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft verwirklicht werden. Andererseits kann in einem Umfeld widersprüchlicher Grundeinsichten, wenn Gefühle, Gedanken, Auslegungen und Stile maßlos und unausgewogen miteinander kollidieren, nichts Fruchtbares entstehen – auch wenn viel Bewegung herrscht. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr des vollständigen Zugrundegehens. In einer Gesellschaft, in der solch ein Chaos an Sinnfragen und Anschauungen herrscht, wird jeder Ansatz wie bei Meereswellen, die aneinander brechen, stets ins Leere laufen, sich im Ozean der Trägheit auflösen und in einem Teufelskreis gefangen sein. Dem Umstand, dass sich Meereswellen gegenseitig ihrer Wirkung berauben, kann man ein paar versteckte Weisheiten abgewinnen, aber in einer Gesellschaft führen Scharmützel lediglich zu Verderbnis, Zerfall und Selbstauflösung. In einer solchen Gesellschaft ist förmlich jeder der Wolf des anderen und jede Idee wird als ein Todesprojekt betrachtet. Auch wenn auf solch eine Welt ständig Segen herabregnen würde, wäre die Gesellschaft stets der Gefahr einer Erosion ausgesetzt. In einer derartigen Gesellschaft wären die historischen und unantastbaren Werte einer schleichenden Durchlöcherung ausgesetzt und dem Untergang geweiht. In solch einer Menschenmasse kann man bei den Alten weder von Loyalität sprechen noch ist bei den jungen Menschen Edelmut vorzufinden. Die dynamischen Kräfte, von denen man erwartet, dass sie die Zukunft Fahne hissend auf ihren Schultern tragen, fluchen einerseits auf die Vergangenheit und die Fahne und andererseits denken sie, die Zukunft sei eine Arena des Wahnsinns, in der sie ihre Schande öffentlich zur Schau tragen könnten. Was die Alten und Intellektuellen betrifft, in schauderhafter Gleichgültigkeit bestärken sie sie förmlich in ihrem getrübten Denken. Ihre Wortwahl, Artikel und Sendungen in den Medien feuern deren bohemehaften Lebensstil weiter an und verätzen ihre Besonnenheit.

In einer solchen Zeit können die Bildungseinrichtungen in den Menschen keine Hingabe zur Wissenschaft fördern und den Geist der Wissenschaft entfachen. Diejenigen, die die Macht repräsentieren, verkommen zu Bauernopfern einer bestimmten Ideologie und zerfleischen sich gegenseitig. Vernunft, Urteilsvermögen und Inspiration sind dazu verdammt, sich durch die engen Korridore von Symbolen und Zeichen zu zwängen. Und natürlich wird in einer Gesellschaft, in der solche Widrigkeiten um sich greifen und Begierden und Gutdünken Gedanken ersetzen, das Leben selbst zur Qual.

Im Gegensatz dazu besitzen unser Gedankensystem und unsere Lebensphilosophie, die das Dasein und die Welten der Vor- und Nach-Existenz berühren, eine Weite, die nicht nur belebte und unbelebte Materie in ihrer Gesamtheit betrachtet und beurteilt, sondern auch kontinuierlich unsere öffentliche Lebensart prägt. In ebensolch einem System kann die Gesellschaft als Ganzes und die Individuen darin die auf Erden so sehnsüchtig erwartete universelle Gerechtigkeit hervorbringen, indem sie ethisches und moralisches Sein zum Fließen bringen und so die Erwartungen der Menschheit erfüllen. Auf diese Weise entfaltet die Gesellschaft, gespeist durch Geist, Ethik, Charakter und reflektiertes Denken, selbsterneuernde Kräfte und lässt – nebenbei bemerkt – unsere Ansichten zur Zivilisation, unseren kulturellen Reichtum in allen Teilen der Welt zu etwas Ersehntem werden. Nunmehr auf der gebenden Seite stehend, können wir unsere humanistischen Ideale, unsere ethische Philosophie und unsere Ansicht über Tugend und unsere Auffassung von Gerechtigkeit der Menschheit viel leichter vermitteln. Aus einer solchen Ausgangsposition heraus werden nicht nur alle Machtquellen des Staates, sondern auch die Dynamiken der Verwaltung sowie soziale und wirtschaftliche Fundamente im Geist der eigenen Werte zu sprudeln beginnen und die Gesellschaft als solches wird von jedweder ‚Abhängigkeit‘ befreit. Bisher haben wir – wenn auch nicht immer offensichtlich – aufgrund einer Reihe von Schwächen oder Verpflichtungen unsererseits wie ein Halsband um unseren Hals stillschweigend ein Verwaltungssystem der ‚Abhängigkeit‘ akzeptiert, das unser wirtschaftliches, politisches und juristisches System träge machte und lähmte. Unsere brillanten Vorväter haben Anatolien zu einem der kultiviertesten Länder der Erde gemacht, errichteten mit ihrem eigenen geistigen Rüstzeug ihre eigenen Verwaltungs- und Politiksysteme sowie juristische Institutionen. Sie haben nicht zugelassen, dass irgendein Gedanke, irgendein System oder irgendeine Auffassung, die nicht ihren Kriterien entsprach, in ihr „Allerheiligstes“, ihre Institutionen, Einlass fand. Nicht nur das, auch nachdem man mit der ganzen Welt im Clinch lag und vorübergehend eine Niederlage erlitt, war man zwar verwundet, aber voller Hoffnung, erschüttert, aber voll Glauben; als man etwas abseits stand, stürzte man sich eifrig darauf, die Originalität des eigenen Lebens zu bewahren, stets versammelt um ein Geschichtsbewusstsein hielten sie die Dynamiken, die sie ausmachten, – wie es in einem Hadith ausgedrückt wird – fest zwischen Gaumen und Zähnen; erhobenen Hauptes, ihre Auffassung vom Diesseits und Jenseits, wie sie sein soll, und noch außer Atem ob des Neuanfangs ihrer Wiedergeburt ...

Hätten wir in diesen Tagen der Morgenröte doch vermocht, in Anbetracht unseres Horizonts der Weisheit die Welt, in der wir leben, noch einmal richtig zu bewerten, Dinge und Ereignisse richtig zu interpretieren und das innere Rüstzeug unserer Menschen genau zu definieren und es mit dem Ideal des ewigen Lebens zu verbinden – dann könnten wir jederzeit so wie unsere Vorväter sein oder ihnen gar einen Schritt voraus sein. Warum sollten nicht besonnene Generationen, die das Gestern, das Heute und das Morgen aus einer gemeinsamen Perspektive betrachten, die die Traditionen und Gebräuche und historischen Dynamiken der Gesellschaft, in der sie leben, schützen und in der Lage sind, den Kreislauf historischer Wiederholungen dahingehend zu verstehen, sich selbst zu erneuern und sich weiterzuentwickeln, stets Verantwortung übernehmend vorangehen?

Es ist sinnvoll, noch einmal daran zu erinnern: Die Hauptaufgabe, die uns zufällt, ist, in den Bürgern ein Bewusstsein für ihre eigene Geschichte zu wecken; den Leidensweg über Jahrhunderte, die Glaubensansichten, die man verinnerlichte und die aus der Tiefe der eigenen verwurzelten Kultur hervorgebrachten Früchte dem Gewissen der Generationen nahezubringen. Wenn wir das schaffen, dann wird in ein bis zwei Generationen niemand das Bedürfnis verspüren, wir müssten hier auf diesem Stück Erde für die verschiedenen Institutionen des Volkes statt der Dynamiken unseres Geistes und Denkens fremde Quellen anzapfen.

Ja, wir tragen alles, was wir für unser zukünftiges Leben benötigen, aus der Vergangenheit bereits in uns. Wenn wir sie im Schmelztiegel unserer eigenen Kultur zusammen mit dem Glanz des Glaubens und dem Licht der Wissenschaft vereinen, werden wir unsere eigene Essenz für die Ewigkeit bereiten.

Dieser Essay erschien in Yeni Ümit (Neue Hoffnung), Januar–März 1997, Nr. 35


[1] türk.: his. Hier ist keine subjektive Gefühlswahrnehmung gemeint, sondern eine Wahrnehmung mit Geist und Intellekt, eine metaphysische Intuition und auch eine von jemand anderem wahrnehmbare Realität. Siehe auch Fethullah Gülen, Smaragdgrüne Hügel des Herzens, 3. Band, S. 235 ff.

[2] Omar Khayyam: Persischer Mathematiker, Physiker, Astronom, Arzt und Philosoph (1048–1131); im Abendland in erster Linie für seine Dichtung bekannt. Es gibt einige Übertragungen seiner Vierzeiler (Roba‘iyat) ins Deutsche.

[3] Hodschazade Mesud Efendi: oberster islamischer Rechtsgelehrter und Haupt der Gelehrtenschaft (Scheych ul-Islam) im Osmanischen Reich.

[4] Molla Zeyrek: Osmanischer Geistlicher und Wissenschaftler des 15. Jahrhunderts. Lehrte in der Medrese der später nach ihm benannten Zeyrek-Moschee – ein ehemals byzantinischer Pantokrator-Komplex.

[5] Mustafa Reschid Pascha: Osmanischer Großwesir und Außenminister (1800–1858). Einer der treibenden Kräfte des Tanzimat, in der tiefgreifende Reformen in der Staatsordnung des Osmanischen Reichs durchgeführt wurden.

[6] Konstitutionalismus: Am 23. Dezember 1876 wurde erstmals in der Geschichte des Osmanisches Reichs eine Verfassung konstituiert. Sultan Abdülhamid II. setzte sie 1878 außer Kraft, bis 1908 die zweite Verfassungsperiode (Meşrutiyet) begann, die bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg anhielt.

Die Fontäne, Oktober-November-Dezember 2016