Eine abschließende Anmerkung: Wie steht der Islam zum freien Willen des Menschen

Die meisten westlichen Orientalisten werfen dem Islam vor, eine fatalistische Religion zu sein. In Wirklichkeit hat jedoch - abgesehen von einer kleinen Sekte (der Dschabriyya) - niemand in der Geschichte des Islam einen solchen Fatalismus verfochten. Demgegenüber basieren nahezu alle westlichen Geschichtskonzepte auf der Unabänderlichkeit von so genannten historischen Gesetzen und sind somit ihrerseits fatalistisch. Diese Geschichtskonzepte lassen sich grob folgendermaßen umreißen:

  • Die Menschheit durchläuft einen fortlaufenden Prozess, an dessen Ende ein ‚Happy End' steht.

  • Dieser Prozess basiert auf unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten, auf die der Mensch keinen Einfluss hat. Daher muss der Mensch diesen Gesetzen in jedem Fall gehorchen, da seine Gesellschaft oder sein Staat sonst scheitern und untergehen würden.

  • Keines der Stadien, die die menschliche Gesellschaft im Laufe der Zeit zwangsläufig durchlaufen muss (das primitive, feudale, kapitalistische Stadium usw.), ist in Frage zu stellen, da die Menschheit es ohnehin irgendwann hinter sich lässt.

All diese Geschichtskonzepte wirken sich auch auf den politischen Status Quo aus: Die zurzeit auf der Welt herrschenden sozio-ökonomischen und politischen Defizite sind unvermeidlich, denn sie werden uns von einer Natur diktiert, deren Devise ist, dass nur der Stärkere überleben kann. Wenn die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte den Westen begünstigen, müssen sich die Gesellschaften, die überleben wollen, eben dem Westen fügen.

Das koranische Geschichtskonzept unterscheidet sich von den übrigen Konzepten:

  • Während Geschichtsphilosophen oder Soziologen ihre Konzepte auf die Interpretation vergangener und gerade stattfindender Ereignisse stützen, stützt sich der Koran auf unveränderliche Prinzipien.

  • Im Gegensatz zum Fatalismus aller anderen Philosophien legt der Koran großen Wert auf die Entscheidungsfreiheit und auf das moralische Verhalten des Individuums. Obwohl der Wille Gottes in mancher Hinsicht als Gegenpart des ‚Geistes' der Hegel'schen Philosophie und absoluter unabänderlicher Geschichtskonzepte anderer Philosophien betrachtet werden kann, bestreitet der Koran nicht, das der Mensch einen freien Willen besitzt. Dem Koran zufolge prüft Gott den Menschen im Leben. Der Mensch selbst ist dafür verantwortlich, sein ‚Feld' für die kommende ewige Welt zu bestellen. Insofern bietet der Strom der Ereignisse - Erfolge und Misserfolge, Siege und Niederlagen, Blüte und Niedergang -, die Gott aufeinander folgen lässt, genügend Gelegenheiten, in denen sich das Gute vom Bösen zu trennen vermag. Diese Form der Prüfung verlangt, dass der Getestete über einen freien Willen verfügt, mit dem er das Rechtmäßige vom Unrechtmäßigen und das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Der Koran sagt, dass die Geschichte keinem unabänderlichen Willen, sondern vielmehr dem freien Willen des Menschen folgt. Denn damit der universelle Wille Gottes walten kann, muss - so hat Gott es verfügt - der freie Wille des Menschen wirklich frei wirken können. Wer diesen Punkt verstanden hat, wird einsehen, wie unbegründet die westlichen Geschichtskonzepte eigentlich sind, insbesondere die Theorien zu einem ‚unvermeidlichen Ende der Geschichte'.