Zivilisation und Konfusion der Konzeptionen

In der Vergangenheit definierte man den Begriff Zivilisation als die Koexistenz von Menschen, die sich in einer Stadt, einer Region oder einem Dorf um humanistische Gedanken und Gefühle scharen und sich ihres Menschseins bewusst sind. Da die Menschen von Natur aus in Gruppen zusammenleben, haben sie auch von Beginn an in Gesellschaften gelebt, die bis zu einem gewissen Grade Zivilisationen darstellten. Eine wahre Zivilisation gründet sich sowohl auf eine Veredelung von Sitten, Gedanken und Gefühlen als auch auf die Kraft des menschlichen Willens. Obwohl einige dazu tendieren, Zivilisiertheit mit überwältigenden Fortschritten und Innovationen in Wissenschaft und Technik - von Zügen bis hin zu Raumschiffen, von breiten Straßen und hohen Gebäuden bis hin zu Dämmen und Kernkraftwerken, von Telekommunikationssystemen bis hin zur Elektronik - gleichzusetzen, handelt es sich bei diesen Dingen doch um nichts weiter als um Hilfsmittel eines bequemen und luxuriösen Lebens. Moderne Anlagen und Apparate können zwar dazu beitragen, das äußere Erscheinungsbild des Lebens zu „modernisieren, das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass dieses Leben tatsächlich auch zivilisiert ist. Eine Zivilisation ist ein Raum, der die Entwicklung des Potenzials des Menschen begünstigt. Und ein zivilisierter Mensch ist jemand, der sich in den Dienst seiner Gemeinschaft im Besonderen und der Menschheit im Allgemeinen stellt und all seine Gedanken, Gefühle und Fähigkeiten innerhalb dieses Raumes entwickelt und verfeinert. Daher darf man eine zivilisierte Lebensform nicht in Reichtum und Luxus, in einem komfortablen Leben in großen, reichlich ausgestatteten Häusern, in bestimmten technischen Errungenschaften oder in Massenproduktion und Massenkonsum suchen, die sämtlich Bestandteile materieller Freuden und physischen Wohlergehens sind. Vielmehr findet man sie in der Reinheit der Gedanken, in der Veredelung von Sitten und Gefühlen und in der Aufrichtigkeit von Ansichten und Urteilen. Eine zivilisierte Lebensform manifestiert sich in der spirituellen „Evolution" des Menschen und in seiner ständigen Selbsterneuerung mit dem Ziel der Erlangung wahrer Menschlichkeit und persönlicher Integrität. Diese machen den Menschen zum „besten Vorbild" der Schöpfung. Es sei darauf hingewiesen, dass eine solche zivilisierte Lebensform kein Kleidungsstück ist, das man in einem Geschäft kauft und sich dann überstreift - wie sie leider von einigen blinden Imitatoren des Westens oft verstanden wird. Nein, eher ist sie ein Bestimmungsort, den man auf dem Weg der Vernunft im Laufe der Zeit und unter bestimmten Umständen erreicht.

Zivilisiertheit ist nicht mit Modernismus gleichzusetzen. Während Erstere voraussetzt, dass der Mensch seine Ansichten, seine Denkweise und seine menschlichen Seiten immer wieder verändert und erneuert, gehören zum Modernismus der Wandel des ganzen Lebensstils, körperliche Vergnügungen und das Bemühen um ein angenehmeres Leben. Dies entspricht der Wahrheit, und dennoch wurden die jungen Generationen damit konfrontiert, dass man die beiden Konzepte miteinander vermengte und so Verwirrung stiftete. Zuerst lenkte man ihren Geist auf falsche Fährten, dann sorgte man dafür, dass ihr Glaube, ihre Sprache, ihr gemeinschaftliches Denken, ihre Moral und ihre Kultur immer weiter verfielen. Die Menschen im Westen, die sich mehr als alle anderen technischer Errungenschaften erfreuen, und die sogenannten Intellektuellen, die in den Ländern des Ostens in Erscheinung traten und sich selbst als zivilisiert und die anderen als Barbaren bezeichnen, haben sich, indem sie unterschiedliche Konzepte miteinander vermengten, schwer gegen die Begriffe Zivilisation und Kultur versündigt. Sie sollten doch wissen, dass Zivilisiertheit und Modernismus nicht identisch sind. Ein Intellektueller zu sein und einen Hochschulabschluss zu besitzen, sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Die Zahl wahrer Intellektueller, die nie an einer Schule gelernt haben, liegt keineswegs niedriger als die Zahl jener Absolventen einer Höheren Schule einer Universität, die es nicht geschafft haben, sich aus ihrer Unzivilisiertheit zu befreien. Der Missbrauch von Konzepten kann Trugbilder erzeugen, die lange Bestand haben und dazu führen, dass Begriffe wie Schwarz und Weiß, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Aufgeklärtheit und Unwissenheit, Intellektualität und Engstirnigkeit oder Zivilisation und Barbarei über einen sehr langen Zeitraum hinweg verwechselt werden.

Eine aufgeklärte Gemeinschaft, die sich von der Vermengung von Gedanken, Ausdrucksformen und Überzeugungen befreien kann, erfordert die Existenz einer Gruppe echter Intellektueller (wobei, wie bereits erwähnt, ein Intellektueller nicht unbedingt ein Akademiker sein muss). In jeder Gemeinschaft gibt es Menschen, die sich auf verschiedene Wissenschaftszweige spezialisiert haben. Aber die Aufklärung einer Gemeinschaft erfolgt nicht durch Menschen, die Physik, Chemie oder Biologie studiert haben, sondern durch jene echten Intellektuellen, die auf der Ebene des Geistes leben und sich ihrer Existenz in Seele und Verstand bewusst sind, weil sie ihre Willenskraft in den Dienst der Wahrheit stellen. Indem sie die Wahrheiten der Wissenschaften mit den göttlichen Eingebungen, die aus den unsichtbaren Welten stammen und eine unauslöschliche Quelle des Lichts bilden, verbinden, beleben sie ihre Seele und ihren Verstand immer wieder neu. Und mit den Botschaften, die sie verbreiten, ebnen sie auch der Wiederbelebung ihrer Völker den Weg. Nur auf den Anstrengungen dieser Intellektuellen lässt sich eine wahrhafte Zivilisation errichten.

Jede neue Zivilisation entsteht aus Bemühungen heraus, die auf einer einzigartigen Liebe und auf einem einzigartigen Glauben gründen. In Abwesenheit von Liebe und Glauben erübrigt es sich, von Zivilisation zu sprechen. Wenn es an Liebe, Glauben und Fleiß fehlt, und darüber hinaus auch noch autoritärer und repressiver Druck ausgeübt wird, führen selbst die Eroberung des Weltraums und die Entdeckung subatomarer Welten nicht zur Gründung einer Zivilisation.

Wenn es dem Großteil der Menschen einer Gemeinschaft an Glauben, Liebe, Fleiß und Verantwortungsgefühl mangelt, wenn die meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft ihre wahre Identität nicht kennen und sich des Zeitalters und der Umwelt, in dem bzw. der sie leben, nicht bewusst sind und ein Leben ohne Ziele führen, dann kann diese Gemeinschaft nicht als zivilisiert bezeichnet werden - selbst wenn sie und all ihre Institutionen umorganisiert wurden, der Lebensstandard beträchtlich gestiegen ist und ihre Mitglieder ihren Lebensstil „modernisiert" haben. Denn es wurde ja schon wiederholt angesprochen, dass Zivilisiertheit ein intellektuelles und spirituelles Phänomen ist, das nichts mit Technologie, Kleidung, Aufmachung, Ausstattung oder Luxus zu tun hat. Das Blutvergießen, das Fortbestehen des Kolonialismus unter verschiedenen Namen, nicht enden wollende Massaker und Konflikte, die Unveränderlichkeit des Verhaltens des Menschen, die Grobheit der Umgangsformen, die Unaufgeklärtheit des intellektuellen Lebens, die Dominanz des Materialismus in Wissenschaft und Weltsichten - all diese und noch viele andere überall in der Welt anzutreffende Zeichen der Unzivilisiertheit beweisen ganz eindeutig, dass weder die „entwickelten" Völker dieser Erde noch ihre Nachahmer in puncto Entwicklung die wahre Zivilisation bereits gefunden haben.

Bedauerlich ist, dass die Intelligentsia der „Entwicklungsländer" ihren Völkern den falschen Glauben vermittelt hat, dass sie sich über die Modernisierung ihres Lebensstils - sprich: über die vollkommene Abhängigkeit vom Westen - zivilisieren könnten. Und genau das Gleiche hat der Westen ihnen stets eingeredet, um ihnen den Weg zu ihrer wahren Zivilisation zu versperren. Die westlich ausgerichteten Modernisten in jenen Entwicklungsländern haben sich nie davor gescheut, das auszuführen, was ihnen vom Westen eingeredet wurde. Durch konzertierte Angriffe auf Religion, Sprache und Denkweise ihrer Gesellschaften haben sie hundertmal mehr erreicht als das, was selbst Hunderte von Kreuzfahrerarmeen erreichen könnten.

Und dennoch: Trotz allem geben wir die Hoffnung nicht auf, dass die Welt erneut eine wahre Zivilisation hervorbringen wird. Die Zeichen dieser Zivilisation, die sich auf Glauben, Liebe, Wissen und universelle moralische Werte gründen wird, sind bereits am Horizont erschienen. Um diese heilige Vision Wirklichkeit werden zu lassen, müssen die jungen Generationen, die diese Angelegenheit längst in die Hand genommen haben, ihren Weg nur mit festem Glauben, außerordentlicher Willenskraft und einer immer stärker werdenden Entschlossenheit fortsetzen."