Der Ursprung des Sufismus

Die Geschichte der islamischen religiösen Wissenschaften klärt uns darüber auf, dass die religiösen Gebote in der Frühzeit des Islam noch nicht schriftlich fixiert wurden. Die Praxis und die mündliche Verbreitung dieser Gebote, die sich auf Glauben, Verehrung und das tägliche Leben beziehen, machten es dem Menschen leicht, sie auswendig zu lernen.

Daher konnten sie später dann auch problemlos in Buchform zusammen gefasst werden. Was auswendig gelernt und praktiziert wurde, wurde auf Papier aufgezeichnet und geordnet. Weil die hier zur Diskussion stehenden religiösen Gebote die lebenswichtigen Angelegenheiten des individuellen wie auch des gesellschaft-lichen islamischen Lebens beinhalteten, räumten ihnen die Gelehrten Priorität ein, trugen sie zusammen und veröffentlichten sie als Bücher. Rechtsgelehrte sammelten und kodifizierten das islamische Recht und die Bestimmungen und Prinzipien, die sich auf alle Gebiete des Lebens beziehen. Die Traditionalisten (muhaddithun) begründeten die Prophetentra-dition und den islamischen 'way of life' und bewahrten sie ebenfalls in Büchern; Theologen wandten sich den Angelegenheiten rund um den Glauben der Muslime zu, und die Koraninterpreten widmeten sich dem Studium der Bedeutung des Koran mitsamt denjenigen Themen, die später als koranische Wissenschaften bezeichnet werden sollten. In diesen Bereich fallen naskh (Abschaffung eines Gesetzes), inzal (die Hinabsendung des ganzen Koran in einem Stück), tanzil (die Hinabsendung des Koran durch Gott in mehreren Teilen bei verschiedenen Gelegenheiten), qira´at (Rezitation des Koran), ta´wil (Exegese), etc.. Dank dieser allgemein anerkannten Bestrebungen wurden die Wahrheiten des Islam und all seiner Prinzipien so gefestigt, dass keine Zweifel an ihrer Authentizität aufkommen konnten.

Während all diese Arbeiten in den Bereichen der religiösen Wissenschaften im Wesentlichen auf die Rechtsprechung, Tradition (hadith), Theologie und Koraninterpretation gründen, versuchten die Sufis, die sich vor allem auf die spirituelle Dimension der Wahrheit Muhammads konzentrierten, vor allem, auf das Wesen des Menschen, die wahre Beschaffenheit der Existenz und die innere Dynamik von Mensch und Kosmos hinzuweisen. Dies taten sie, indem sie ihre Aufmerksamkeit derjenigen Realität der Dinge schenkten, die unterhalb und jenseits ihrer äußeren Dimen-sion liegen. Sie ergänzten die Korankom-mentare, die Berichte der Traditionalisten und die Beweisführung der Rechtsgelehrten um ihre Askese, ihre Spiritualität, ihre Selbstreini-gung und - auf einen Nenner gebracht - um ihre Erfahrung in der Ausübung der Religion. So entwickelten die Sufimeister ihre eigenen Wege. Das islamische spirituelle Leben, basierend auf den Handlungen des Geistes wie z. B. Askese, regelmäßige Verehrung, Unterlassung von allen großen und kleinen Sünden, Aufrichtigkeit und lautere Absicht, Liebe, Sehnsucht und das Eingeständnis der grundlegenden Hilflosigkeit und Unvollkom-menheit, wurden zu den Hauptthemen einer neuen Wissenschaft, die sich tasawwuf, Sufismus, nannte und ihre eigenen Methoden, Prinzipien, Bestimmungen und Kategorien besaß. Auch wenn sich im Laufe der Zeit einige Meinungsverschiedenheiten unter den Orden ergaben, die später gegründet wurden, lässt sich festhalten, dass das Hauptanliegen dieser Wissenschaft die Essenz der Weisheit Muhammads ist.

Leider wurden Sharia und Sufismus gelegentlich als einander gegensätzlich beschrieben, obwohl sie doch nur zwei unterschiedliche Aspekte einer einzigen Wahrheit sind. Der Sufismus ist faktisch die Seele der Sharia, er beinhaltet Genügsamkeit, Selbst-kontrolle und -kritik, regelmäßiges Beten, permanenten Kampf, den Versuchungen des Teufels und dem fleischlichen, zu Bösem verleitenden Ich zu widerstehen, Erfüllung religiöser Pflichten etc.. Während es als exoterisch galt, der Sharia Priorität einzuräumen und sich somit auf die äußeren Dimensionen der Religion zu beschränken, wurden die Anhänger des tasawwuf als reine Esoteriker bezeichnet. Diese Diskriminierung entsteht teilweise aus der Behauptung, die Gebote der Sharia würden durch Rechtsgelehrte und Muftis (islamische Gesetzeskundige) reprä-sentiert, die Prinzipien des tasawwuf dagegen durch die Sufis. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass der Mensch immer dazu neigt, dem, was seinem Temperament und seinen Fähigkeiten am meisten entspricht, den Vorzug zu geben.

So wie aber Rechtsgelehrte, Traditionalisten und Koraninterpreten bedeutende Werke schufen, die auf Koran und Sunna basierten, und Methoden folgten, die auf die Zeit des Propheten und seiner Anhänger zurück gingen, stellten auch die Sufis Werke über Genügsamkeit, spirituellen Kampf gegen fleischliche Begierden und Versuchungen, Geisteszustände und spirituelle Stationen zusammen, die auf den gleichen Quellen basierten, die sie jedoch zusätzlich noch mit ihren eigenen spirituellen Erfahrungen, mit Liebe, Eifer und Begeisterung ergänzten. Auf diese Weise versuchten sie, diejenigen zu erreichen und für ihren Weg und den spirituellen Aspekt des religiösen Lebens zu gewinnen, die der äußeren Dimension der Religion und der ausschließlichen Reflexion über diese verhaftet sind.

Sowohl die Sufis als auch die Gelehrten, die dafür kritisiert wurden, sich nur auf die äußeren Aspekte der Religion zu beschränken, waren im Allgemeinen bemüht, sich an die Göttlichen Pflichten und Verbote zu halten. Trotzdem führten extreme Ansichten auf beiden Seiten zu Unstimmigkeiten zwischen den zwei Parteien. Tatsächlich gab es aber keine wesentlichen Gegensätze; es sollte auch nicht als Indiz für einen Streit gelten, dass unterschiedliche Aspekte und Elemente der Religion unter verschiedenen Bezeichnungen gehandelt und präsentiert wurden. Ganz sicher kann man nicht von einer Unstimmigkeit sprechen, wenn sich die Rechtsprechung mit den Dingen des täglichen Lebens, der Verehrung und mit der Frage, wie sich das individuelle und gesellschaftliche Leben regulieren lässt, beschäftigt, und der Sufismus seinerseits den Menschen anleitet, sein Leben durch Selbstreinigung und spirituelles Training auf einer höheren Ebene der Spiritualität zu leben. Sufismus und Rechts-prechung sind in Wirklichkeit zwei Fakultäten einer einzigen Universität, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen beide Gesichter bzw. Dimensionen der Sharia vorzustellen und ihnen zu helfen, sie in ihrem Leben zu praktizieren. Eine dieser Fakultäten kann nicht ohne die andere existieren. Die eine lehrt uns, die vorgeschriebenen Gebete zu verrichten, die für das Gebet vorschrifts-gemäße Reinigung durchzuführen, zu fasten, die obligatorischen Almosen zu geben und das tägliche Leben - vom Einkauf bis zur Hochzeit - zu regulieren usw.. Die andere konzentriert sich auf die Bedeutung dieser und anderer Verehrungspraktiken, sie teilt uns mit, wie die Verehrung zu einer unverzichtbaren Dimension der menschlichen Existenz werden kann und wie der Mensch in den Rang eines universellen, vollkommen Wesens - den Rang wahrer Menschlichkeit - erhoben werden kann. Daher dürfen beide Disziplinen nicht vernachlässigt werden.

Obwohl einige angebliche Sufis in ihrer Unverschämtheit so weit gingen, religiöse Gelehrte als ,Zeremonienmeister' oder ,Exoteriker' zu bezeichnen, haben sich die wahren, vollkommenen Sufis immer auf die Hauptprinzipien der Sharia verlassen und ihre Vorstellungen auf das Buch, den Koran, und auf die Sunna gegründet; ihre Methoden haben sie stets aus diesen Hauptquellen des Islam abgeleitet. Die folgenden Werke z. B. gehören zu den wertvollen Quellen, in denen das Thema Sufismus in Übereinstimmung mit dem Buch und der Sunna behandelt wird:

Wasaya´ (Ratschläge), Ri´aya (Beachtung von Regeln) von al-Muhasibi, al-Ta´arruf li-Madhhabi ahl al-Tasawwuf (Einführung in die Schule der Sufis) von Kalabazi, al-Luma´ (Das Schimmern) von at-Tusi, Qaut al-Qulub (Die Nahrung des Herzens) von Abu Talib al-Makki und al-Risala (Die Abhandlung) von al-Qushairi.

Diesen großen Autoren folgte Imam al-Ghazali, der Verfasser des berühmten Werkes Ihya´al-Ulum al-Din (Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) mit seinem Werk Hujjat al-Islam. Er unterzog alle Begriffe, Prinzipien und Regeln des tasawwuf einer Revision, bestätigte diejenigen, die von den Sufimeistern allgemein akzeptiert waren und kritisierte andere. Er wiedervereinigte einmal mehr beide Disziplinen - die innere und die äußere Dimension des Islam oder den Tasawwuf und die Rechtsprechung. Die Sufimeister nach ihm präsentierten den Sufismus als eine der religiösen Wissenschaften bzw. als eine deren Dimensionen und setzten sich für eine Verständigung mit den ,Gelehrten der Zeremonien' ein. Darüber hinaus gelang es ihnen, einigen Themen wie z.B. den unterschiedlichen Geisteszuständen, Gewissheit und Überzeugung, Aufrichtigkeit und Moral, mit denen sich der tasawwuf eingehend beschäftigt, Eingang in die Curricula der madrasat (singl.: madrasa) zu verschaffen - der Institutionen, in denen die religiösen Wissenschaften gelehrt werden.

Auch wenn sich der Sufismus vor allem auf die innere Dimension des Menschen konzentriert, die religiösen Gebote auf ihre Bedeutungen und Auswirkungen auf Seele und Herz des Menschen untersucht und somit abstrakt ist, widerspricht er keineswegs irgendeinem islamischen Weg, der auf dem Koran und der Sunna basiert. Seine Quelle liegt wie die anderer religiöser Wissen-schaften auch im Koran, in der Sunna und in den Schlüssen, die die aufrichtigen Gelehrten der Frühzeit des Islam aus diesen beiden Quellen zogen - dem ijtihad. Der Sufismus legt Wert auf Wissen, Wissen um Gott, Gewissheit, Aufrichtigkeit, vollkommene Frömmigkeit und andere, ähnlich grundlegende Eigenschaften.

Nur weil wir tasawwuf mit unterschiedlichen Titeln wie ,Wissenschaft der esoterischen Wahrheiten oder Mysterien', ,Wissenschaft der spirituellen Zustände und Stationen des Menschen' und ,Wissenschaft der Einweihung' definieren, heißt das noch lange nicht, dass er sich von anderen religiösen Wissenschaften gänzlich unterscheidet. Solche Definitionen ergaben sich aus den jahrhundertelangen Erfahrungen von unterschiedlichsten Menschen mit der Sharia. Die Standpunkte der Sufis und die Vorstellungen und Schlussfolgerungen der Shariagelehrten als grundverschieden zu bezeichnen, bedeutet eine Verzerrung der Tatsachen. Natürlich ist es nicht zu leugnen, dass einige Sufis fanatisch an ihren eigenen Wegen festhielten, was auch für einige religiöse Gelehrte (Rechtsgelehrte, Tradition-isten und Koraninterpreten) gilt, die sich auf die äußere Dimension ihrer Religion beschränkten; diejenigen, die dem mittleren geraden Weg folgten, waren jedoch immer in der Mehrheit. Aus einigen unpassenden Gedanken und Worten, die von einigen wenigen Rechtsgelehrten und Sufis gegen die jeweils anderen ins Feld geführt wurden, sollte man nicht schließen, dass es grundsätzliche Unstimmigkeiten zwischen diesen beiden Gruppen gäbe. Verglichen mit der Zahl derer, die stets auf der Seite von Toleranz und Übereinstimmung standen, nimmt sich die Zahl derjenigen, die einen Konflikt verursacht oder sich an einem solchen beteiligt haben, äußerst gering aus. Dieses Verhältnis entspricht dem natürlichen Zustand, denn die Rechtsgelehrten finden genau wie die Sufis auch ihre Grundprinzipien in Koran und Sunna.

Dazu kommt, dass die Prioritäten des tasawwuf sich niemals von denen der Rechtsprechung unterschieden haben. Beide Disziplinen oder Wege haben immer die Bedeutung von Glauben, guten Taten und gutem Verhalten betont. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Sufis mehr Wert als die Rechtsgelehrten auf die Reinigung des Ichs legten, sich mehr auf die Bedeutung und eine Vervielfältigung ihrer guten Taten sowie auf die Erlangung einer höheren Ebene der guten Moral konzentrierten; denn mit ihrer Hilfe sollte das Bewusstsein des Menschen im Wissen um Gott erwachen und der Mensch einen Weg einschlagen, der zu der erforderlichen Aufrichtigkeit in der Praxis der Religion führe und Gottes Wohlgefallen hervorrufe. Wenn es dem Menschen gelingt, sich durch diese Tugenden einen anderen Charakter anzueig-nen (ein anderes Herz - spirituellen Verstand - inmitten des alten Herzens, tieferes Wissen um Gott und eine andere ,Sprache', um den Namen Gottes auszusprechen), kann er allen Geboten die die Sharia vorsieht, in einem tieferen Bewusstsein um seine Dienerschaft entsprechen. Er wird sie dann gern und mit größerer Leidenschaft erfüllen.

Durch den tasawwuf übt sich der Mensch in Spiritualität. Durch seinen Kampf mit sich selbst, durch Einsamkeit oder Zurückgezo-genheit, Anrufung, Selbstkontrolle und Selbstkritik zerreißen die Fesseln der inneren Dimension seiner Existenz; der Mensch ist mehr denn je von allen größeren und kleineren Prinzipien seines Glaubens überzeugt.