Qurb und Bu’d (Nähe und Distanz)

Der Begriff ,qurb' (Nähe) drückt aus, dass ein Mensch seine Körperlichkeit überwindet, um vollkommene Spiritualität und größtmögliche Nähe zu Gott zu erlangen. Wenn einige qurb als Nähe Gottes zu Seinen Dienern beschreiben, so entspricht dies nicht der Wahrheit. Zwar ist Gott ihnen nahe; Quantität oder Qualität dieser Nähe sind jedoch nicht messbar. Nähe bezieht sich in der sufistischen Terminologie auf ,sterbliche Wesen', auf Geschöpfe, die irgendwann erschaffen wurden und unterschiedliche Formen und Existenzstufen annehmen. Gottes Nähe zu seinen Geschöpfen wird in der Aussage Gottes Und Er ist mit euch, wo immer ihr (auch) sein möget.[1] charakterisiert. Mit der Nähe, die dieser Vers beschreibt, ist nicht die Nähe gemeint, die sich der Mensch durch seinen Glauben und seine gute Taten erwirbt; hier ist von Gottes Nähe zu seinen Geschöpfen die Rede, einer Nähe, die Ihn den Geschöpfen näher bringt, als ihr eigenes Ich es ist. Die Nähe Gottes umfasst jedes erschaffene Ding oder Wesen, ob es nun lebt oder nicht, gläubig oder ungläubig ist, gut oder schlecht.

Während die allgemeine Nähe - die Nähe Gottes zu seinen Geschöpfen - jedes Ding und jedes Wesen einschließt, ist die spezielle Nähe vom Glauben abhängig und kann dadurch erlangt werden, dass man tut und akzeptiert, was Gott als gut und gerecht befiehlt. Dies ist die spezielle Nähe derjenigen Menschen zu Gott, dem Allmächtigen, die den Weg der Nähe entdeckt und den Korridor zur Ewigkeit beschritten haben und so jeden Morgen und jeden Abend eine neue tiefe Dimension des Glaubens erfahren. Sie finden im Koranvers Wahrlich, Allah ist mit denen, die gottesfürchtig sind und Gutes tun.[2] Erwähnung. Wer diese Stufe erreicht hat, rezitiert beim Einatmen Mein Herr ist mit mir; Er wird mich richtig führen.[3] und beim Ausatmen Denn Allah ist mit uns.[4]

Für die spezielle Nähe besitzen die Bewusstheit im Glauben und die vollkommene Tugend den gleichen Wert und die gleiche Bedeutung, wie sie dem Licht für das Sehen und der Seele für den Körper zukommen. Die obligatorischen und über das unerlässliche Maß hinausgehenden religiösen Pflichten mit dieser Bewusstheit zu erfüllen, lässt dem Eingeweihten Flügel des Lichts wachsen, mit denen er sich zu den ,Himmeln' der Unendlichkeit empor schwingen kann. Der sicherste und zugleich anerkannteste Weg zur Nähe Gottes führt über die Erfüllung der obligatorischen religiösen Pflichten. Wahre Nähe und den Rang eines von Gott Geliebten findet man durch über das Mindestmaß hinausgehende religiöse Akte, denen keine Grenzen gesetzt sind und die die Ergebenheit und Verehrung eines Dieners für Gott anzeigen. Der Reisende findet sich auf seinem Weg zu Gott ständig auf neuen Korridoren wieder, die er mit Hilfe der Flügel seiner zusätzlichen religiösen Akte durchquert; immerfort wird er mit neuen Geschenken überhäuft. Aus diesem Grunde legt er noch mehr Wert darauf, die obligatorischen religiösen Pflichten zu erfüllen, und begeistert sich zunehmend dafür, Gott zusätzliche Verehrung entgegenzubringen. Jeder Suchende, der sich diese Wahrheit zu eigen gemacht hat, ist sich der Tatsache bewusst, dass Gottes Liebe für ihn seiner Liebe zu Gott entspricht. Wie aus folgendem ,hadith qudsi' hervorgeht, wird er in seinem Handeln vom Willen Gottes geleitet:

Mein Diener kann mir nicht durch irgendetwas anderes, was mir mehr gefallen würde, näher sein als durch die Erfüllung seiner religiösen Pflichten. Trotzdem kommt er Mir durch über das Mindestmaß hinausgehende Pflichten noch näher; und während er sich Mir nähert, werde Ich zu seinen Augen, mit denen er sieht, zu den Ohren, mit denen er hört, zu den Händen, mit denen er greift, und zu den Beinen, mit denen er geht.

Mit anderen Worten: Die Nähe, die man sich durch die Erfüllung der religiösen Pflichten erwirbt, ist ein weiterer Ehrentitel der Stufe, von Gott geliebt zu werden und sich unter diejenigen einzureihen, die Gott liebt. Die Stufe der über das Mindestmaß hinausgehenden Pflichten entspricht der Stufe, alle eigenen Taten Gott, der Wahrheit, zuzuschreiben. Sie ist eine besondere Gabe und Ehre, die auch der Koranvers Nicht ihr habt sie erschlagen, sondern Allah erschlug sie. Und nicht du hast geschossen, sondern Allah gab den Schuss ab.[5] verdeutlicht.

Die Nähe, die ein spezielles Geschenk Gottes darstellt, ohne Berücksichtigung ihres Ursprungs bei Gott menschlichen Taten zuzuschreiben, wäre der falsche Ansatz. Die Nähe Gottes entspringt - als ein spezielles Geschenk - Seiner Größe und Gnade, und die Distanz ist eine der Schwächen und ,dunklen Gruben' unseres Charakters bzw. unserer Natur. In den nun folgenden Reimen bringt der Autor des Werkes Bustan u Gülistan (Der Garten und der Rosengarten) unmissverständlich zum Ausdruck, wer der Ursprung von Nähe und Distanz ist:

„Der Freund steht mir näher als ich selbst;
Wie seltsam, dass ich Ihm so fern bin.
Was soll ich sagen, was soll ich tun,
Während Er bei mir ist, bin ich Ihm doch so fern.

Distanz bedeutet, ,Gott fern sein und zu Grunde gehen'. Sufis verstehen darunter, dass zuerst die Geschenke Gottes ausbleiben und dass sich der Mensch dann von Gott entfernt, bis er schließlich, wenn ihm keine Unterstützung Gottes mehr zuteil wird, vollkommen verloren ist und zu Grunde geht.

Genauso wie die Nähe Abstufungen in Hinblick auf normale Gläubige, Heilige, gute und rechtschaffene Menschen und jene kennt, die sich ganz in der Nähe Gottes befinden, sieht auch die Distanz Abstufungen in absteigender Linie bis hinunter zum Teufel, der den Tiefpunkt des Verderbens repräsentiert, vor.

Die Nähe zu Gott ist eine Begünstigung durch Gott, die Distanz hingegen ist gleich bedeutend mit Entzug. Trotz allem kann kein Mensch ständig seine Nähe bzw. Distanz zu Gott wahrnehmen. Das größte Geschenk Gottes an einen Menschen liegt darin, dass Er ihm nicht gestattet, Seine (speziellen) Gunstbeweise zu fühlen. (Z.B. nimmt ein Heiliger nicht wahr, dass er ein Heiliger ist, und jemand, der Gott nahe steht, spürt nicht, dass dies so ist, denn sonst wäre er nur stolz und würde seine Zuwendungen verlieren.) Diejenigen, die Gott am nächsten stehen, wissen normalerweise nichts von dieser Tatsache. Andererseits ist die Unbewusstheit jener, die Gott fern sind, so etwas wie eine Vergeltungsmaßnahme Gottes. Davon abgesehen gibt es auch Menschen, die von der Liebe zu Gott berauscht sind und nicht zwischen Nähe und Distanz unterscheiden, die weder den Wunsch nach Nähe verspüren, noch sich um Distanz Gedanken machen.

Das folgende Verspaar beschreibt die Gedanken solcher berauschter Menschen:

„Dschami, mach dir nicht über Nähe oder Distanz Gedanken,
Es gibt weder Nähe noch Distanz, weder Einheit noch Trennung."

Es steht außer Frage, dass Distanz Schrecken verbreitet und ein Zeichen für Verlust ist. Es gibt jedoch auch Menschen, die angesichts des Windes der Ehrfurcht, der aus der Richtung der Nähe weht, erschauern. Sie fühlen sich wie im Haltegriff des Zorns und der Zerstörung Gottes. Um ihre Gemütslage zu beschreiben, möchte ich mich der Redewendung Die Nähe zum König ist ein brennendes Feuer. bedienen. Und trotzdem: Wenn sich die Nähe mit den Hängen des Paradieses vergleichen lässt, auf denen Vertrauen und Freundschaft wehen, kann die Distanz als eine Grube aus Entzug und Verlust betrachtet werden.


[1] 57:4
[2] 16:128
[3] 26:62
[4] 9:40
[5] 8:17"