Sabr (Geduld)

Sabr bedeutet ,Standhaftigkeit', ,Ertragen von Schmerzen', Leid und Schwierigkeiten', beinhaltet aber auch den Kampf gegen Schwierigkeiten, Schmerzen und Leid sowie einen besonnenen Umgang mit ihnen. Die Geduld ist eine der wichtigsten Handlungen des Herzens; Gott zeigt uns im Koran ihre vielen verschiedenen Aspekte auf. Auf Grund ihrer Bedeutung gilt die Geduld als die eine Hälfte des religiösen Lebens (die andere ist die Dankbarkeit).

In vielen Versen befiehlt uns der Koran direkt, geduldig zu sein, an anderen Stellen wiederum verbietet er uns Handlungen, die im Widerspruch zur Geduld stehen. Beispiele für direkte Befehle sind die Verse Und helft euch durch Geduld und Gebet.[1] und Übt Geduld und wetteifert in Geduld.[2]; indirekte Anordnungen finden sich in den Versen So gedulde dich denn, wie es die Gesandten taten, die geduldig waren, und überhaste dich nicht ihretwegen.[3] und So kehrt ihnen nicht den Rücken.[4] In vielen Koranversen preist Gott die Geduldigen, erklärt, dass Er sie liebt, oder gibt Aufschluss darüber, welche Ränge er für sie bereitstellt; z.B.:

Die Geduldigen und die Wahrhaften und die Andachtsvollen und die Spendenden; und Allah liebt die Geduldigen; wahrlich, Allah ist mit den Geduldigen.[5]

Der Koran erwähnt Geduld jedoch auch aus anderen Blickwinkeln heraus und in Hinblick auf viele weitere Aspekte. Im Vers Wollt ihr es aber geduldig ertragen, dann ist das wahrlich das Beste für die Geduldigen.[6] beispielsweise empfiehlt er Geduld als favorisierte Verfahrensweise im Umgang mit Ungläubigen, denen man die Botschaft Gottes überbringt. Im Vers Diejenigen, die da glauben und gute Werke tun - ihnen wird der Erbarmer Liebe zukommen lassen.[7] tröstet er die Geduldigen mit dem Versprechen, dass ihnen im Jenseits die schönsten Belohnungen zuteil werden. Im Vers Ja, wenn ihr geduldig und gottesfürchtig seid und sie sofort über euch kommen, wird euer Herr euch mit fünftausend Engeln in Kampfbereitschaft helfen.[8] verheißt er ihnen als Belohnung für ihre Geduld den Beistand Gottes.

Sehr aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang der Ausspruch des Propheten:

In welch bemerkenswerter Lage sich doch der Gläubige befindet! Denn alles geschieht immer zu seinem eigenen Nutzen, was sich über niemand anderen sagen lässt. Wenn ihm etwas Gutes geschieht, dankt er Gott, und das gereicht ihm zur Ehre, stößt ihm aber etwas Nachteiliges zu, erträgt er es; und so profitiert er auch hiervon.[9]

Was jene Dinge anbelangt, die Geduld erfordern, so lassen sich einige Kategorien unterscheiden:

1) das Ertragen von Schwierigkeiten, denen man bei der Erfüllung der Pflichten des Dienstes an Gott begegnet; Standhaftigkeit bei der Durchführung der regelmäßigen Akte der Verehrung;

2) Widerstand gegenüber den Versuchungen des fleischlichen Selbst und des Teufels und die Abwehr von Sünden;

3) das Erdulden von weltlichen und himmlischen Unglücken, was Zufriedenheit mit den Beschlüssen Gottes impliziert;

4) Ausdauer bei der Verfolgung des rechten Weges, ohne irgendwelche Zugeständnisse an weltliche Vergnügungen zu machen;

5) langsame und besonnene Realisierung eigener Hoffnungen oder Pläne, die eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.

Auch die Charakteristika der einzelnen Stufen der Geduld lassen sich in sechs Kategorien unterteilen:

1) Gott zuliebe Geduld zu bekunden;

2) Geduld zu bekunden und sie auf Gott zurückzuführen; d.h., davon überzeugt zu sein, dass Gott es ist, der uns dazu befähigt, Geduld zu zeigen;

3) ohne irgendeine Ungeduld zu bekunden, allem, was von Gott kommt - ob es Seiner Gnade oder Seinem Zorn entspringt - standzuhalten und somit davon überzeugt zu sein, dass alles, was Er tut, einen Funken Weisheit enthält;

4) immerzu zufrieden alles, was uns auf dem Weg zu Gott zustößt, zu akzeptieren - sei es guter oder schlechter Natur;

5) die Geduld aufzubringen, anderen nicht die Geheimnisse zu verraten, denen man auf einer spirituellen Station begegnet, und sich die Nähe Gottes zu bewahren;

6) entschlossen zu sein, trotz des unwiderstehlichen Wunsches, zu sterben und Gott zu treffen, die Pflicht, den Menschen die Botschaft Gottes zu verkünden, zu erfüllen.

Es gibt aber auch einige andere Definitionen für Geduld. In einer heißt es, Geduld bedeute, nicht angesichts von Schicksalsschlägen die Fassung zu verlieren und allen Geschehnissen gegenüber gelassen zu bleiben, ohne Anzeichen von Furcht zu zeigen. Weitere Definitionen von Geduld verbieten dem Geduldigen, sich den fleischlichen Begierden oder den Impulsen seines Temperaments hinzugeben, und verlangen von ihm, die Gebote von Koran und Sunna als eine Art Einladung ins Paradies zu akzeptieren bzw. alles, was er besitzt - sogar die eigene Seele und die ihm nahe Stehenden - Gott zu opfern.

Die Koraninterpreten, die schon immer an den Geheimnissen und an den esoterischen Bedeutungen der Koranverse interessiert waren, haben die Aufforderung O ihr, die ihr glaubt, übt Geduld und wetteifert in Geduld, und seid standhaft und fürchtet Allah; vielleicht werdet ihr erfolgreich sein.[10] so interpretiert: „Sei standhaft in der Ausübung deiner religiösen Pflichten und ertrage alles, was dir zustoßen mag, wie unerfreulich es auch sein mag! Bewahre dir deine Liebe zu Gott und den Wunsch, Ihm zu begegnen! Eine andere Interpretation lautet: „Sei Gott zuliebe und zu Seinem Wohlgefallen unbeirrbar in der Erfüllung all deiner Pflichten, und ertrage die Schwierigkeiten, die dir daraus entstehen, dass du dir der ständigen Kontrolle durch Gott stets bewusst bist und Seine Allgegenwart immerzu spürst!" Oder: „Lasse dich niemals und durch nichts vom Verfolgen des geraden Weges abbringen, selbst wenn du mit Geschenken Gottes überhäuft wirst. Nimm alle Schwierigkeiten und alles Elend entschlossen auf dich; halte deine Verbindung zu Gott aufrecht, was immer auch geschieht!"

Ein weiterer Ansatz zur Definition des Begriffes besagt, Geduld bedeute, alles, was es im Universum gibt und was in ihm geschieht, auf Gott, den Allmächtigen, zurückzuführen, und nicht nur für die Dinge oder Ereignisse zu danken, die uns angenehm erscheinen, sondern auch jene, die uns auf den ersten Blick unerfreulich anmuten, frohen Mutes zu akzeptieren. Nebenbei erwähnt stellt es aber keineswegs eine Beschwerde über Gott oder die Vorherbestimmung Gottes dar, wenn ein Mensch angesichts von Unglücken und Not, die er nicht bewältigen kann, angesichts von Pflichten, denen er nicht nachkommen kann, oder angesichts tiefer Abgründe von Sünden, in die er zu fallen droht, Gott sein Herz ausschüttet, Ihn um Rat fragt und bei Ihm Zuflucht sucht. Je nach Absicht des Menschen, der zu diesem Mittel greift, kann man hier nicht von Beschwerde, Einspruch oder Jammern sprechen, sondern darf solches Verhalten getrost als Bitte oder Gebet auffassen - als Vertrauensbeweis für die Unterwerfung unter den Willen Gottes.

Der Anruf Gottes durch den Propheten Job Und (gedenke) Hiobs, als er zu seinem Herrn rief: „Unheil hat mich geschlagen, und Du bist der Barmherzigste aller Barmherzigen."[11] und das Stöhnen des Propheten Jakob Ich beklage nur meinen Kummer und meinen Gram vor Allah.[12] waren Bitten und Gebete, die Gottes Mitleid und Barmherzigkeit wecken sollten. Gott, der Allmächtige, lobte Hiob dafür, ein guter Diener zu sein, der sich durch seine Geduld und seine Gebete auszeichne:

Wahrlich, wir fanden ihn geduldig. (Er war) ein vortrefflicher Diener; stets wandte er sich (Allah) zu.[13]

Eines der hervorragendsten Charakteristika von Propheten und Heiligen ist es, dass jeder von ihnen eine Verkörperung von Geduld in all ihren Aspekten und Stufen war und dass sie alle, ohne von ihrer vollkommenen Hingabe an Gott abzuweichen, ihr Möglichstes taten, um den Menschen Gottes Botschaft zu überbringen - selbst wenn sie von Unglücken und Schwierigkeiten, die ihnen aus dieser Mission entstanden, bedroht waren. Der Prophet Muhammad erklärte:

Von allen Menschen sind es die Propheten, die von den schrecklichsten Unglücken heimgesucht werden, danach folgen andere - gemäß dem Grad ihres Glaubens.[14]

Die Geduld ist ein wichtiges Kennzeichen derer, die in Glauben, Spiritualität, Nähe zu Gott und Unterweisung anderer in der Wahrheit sehr weit fortgeschritten sind. Außerdem dient sie denen, die auf dem Weg zu diesem Punkt wandern, als Quelle der Kraft. Weil die am weitesten Fortgeschrittenen auch bevorzugt von Unglücken heimgesucht werden, ist jeder von ihnen auch gleichzeitig eine vollkommene Verkörperung aller Aspekte bzw. Arten von Geduld; sie bezahlen den Preis für die Stufe, die ihnen gewährt wurde. Diejenigen, denen es beschieden ist, das letzte Ziel zu erreichen, nehmen die Stufen, die andere durch verschiedene häufige Akte der Verehrung überwinden, dadurch, dass sie allem standhalten, was da kommen mag. Der Prophet Muhammad sagte in diesem Zusammenhang:

Wenn Gott, der Allmächtige, einem Seiner Diener einen Rang oder eine Position beschieden hat, die dieser nicht durch seine religiösen Handlungen erreichen kann, lässt Er ihn an sich selbst und seiner Familie leiden und rüstet ihn mit Geduld aus, damit er all seine Leiden ertragen kann. Durch die Geduld erhöht Er ihn auf den Rang, den Er ihm zugedacht hat.[15]

Darum verbirgt sich in den Leiden, die jemand ertragen muss, in den Schwierigkeiten, denen sich der Mensch bei der Erfüllung seiner Pflichten ausgesetzt sieht, und in dem Druck der Sünden auch ein Potenzial der Gnade. Die Geduld wiederum ist der Schlüssel zu dieser Gnade. Wer von diesen Problemen betroffen ist, sollte sein Herz niemand anderem als Gott ausschütten. Von dem Dichter Fuduli stammen folgende Zeilen:

„Du sagst, du seiest liebend, dann beklage dich nicht über die Beschwerden, die die Liebe mit sich bringt.
Lasse niemand anderen durch dein Klagen von deinen Beschwerden wissen."

Der Reisende auf dem Weg zu Gott sollte wissen, wie man aus Liebe kocht und verbrennt oder von Mühsalen aufgefressen wird, anderen aber niemals durch Klagen seine Mühsal und seine Liebe kund tut. Selbst wenn seine Probleme und seine Verantwortung wie Berge auf ihm lasten, sollte er sich anderen Menschen gegenüber bedeckt halten.

Der arabische Autor Mathnawi bemüht bei der Beschreibung dieses Grades an Geduld einen Vergleich:

„Um dem Menschen als Nahrung dienen zu können, um eine Quelle der Stärke für seine Knie zu sein, ein ,Licht' für seine Augen und eine Substanz zur Lebenserhaltung, muss ein Weizenkorn in die Erde versenkt werden, dort keimen und wachsen, um sich an der Oberfläche zeigen zu können. Dort muss es sich nach einem harten Kampf mit der Erde und den Umweltbedingungen zu einer Ähre formen; dann muss es geerntet, gedroschen, in einer Mühle gemahlen, daraufhin geknetet, in einem Ofen gebacken und schließlich von den Zähnen zerkaut, in den Magen hinabgelassen und verdaut werden."

Um wahre Menschlichkeit zu erlangen, muss der Mensch ebenfalls mehrfach ,gesiebt' und ,destilliert' werden. Erst dann kann er sein wahres Wesen erkennen. Anderenfalls wird es ihm nicht gelingen, sein Potenzial, ein wahrer Mensch zu sein, auszuschöpfen.

„Vom Diener Gottes wird erwartet, dass er leidet, vom Aloeholz dass es brennt."

Die Geduld ist eine grundlegende und gleichzeitig die wichtigste Dimension des Dienstes an Gott. Gekrönt wird sie von der Zufriedenheit mit allem, was Gott uns bestimmt hat. Diese Zufriedenheit ist in den Augen Gottes der höchste spirituelle Rang.


[1] 2:45
[2] 3:200
[3] 46:35
[4] 8:15
[5] (in dieser Reihenfolge:) 3:17; 3:146; 2:153
[6] 16:126
[7] 19:96
[8] 3:125
[9] Muslim, Zuhd, 64
[10] 3:200
[11] 21:83
[12] 12:86
[13] 38:44
[14] Tirmidhi, Zuhd, 56; Ibn Madscha, Fitan, 23; Darimi, Riqaq, 67
[15] Ibn Hibban, Sunan, 4.248; Kanz al-Ummal, Vol.3, Hadith Nr. 6822"