Tawadu (Bescheidenheit)

Tawadu ist eine Tugend mit den Bedeutungen ,Mäßigung' und ,Bescheidenheit'; damit steht sie im Kontrast zu Eigenschaften wie Arroganz, Hochmut und Überheblichkeit.

Wir können tawadu auch als das Bewusstsein des Menschen um seine wahre Position gegenüber Gott und sein dementsprechendes Verhalten Gott und seinen Mitmenschen gegenüber interpretieren, auf Grund dessen er sich als einen von ihnen betrachtet, als einen Teil der Schöpfung. Wenn es einem Menschen gelingt, sich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht mehr als die Schwelle einer Tür, eine auf dem Boden liegende Matte, ein Pflasterstein, ein Kiesel im Strom oder die Spreu im Wind wert ist und wenn er sich darüber hinaus mit Muhammad Lutfi Efendis Worten „Jeder andere ist gut, ich aber bin schlecht; jeder andere ist der Weizen, ich aber bin die Spreu! identifizieren kann, dann werden ihm die einzigartigen Persönlichkeiten im Himmel sein Haupt küssen. In einer Aussage, die dem Propheten Muhammad zugeschrieben wird, heißt es:

Wer demütig ist, den wird Gott lobpreisen, wer aber hochnäsig ist, den wird Gott erniedrigen.[1]

Wer wirkliche Größe besitzt, führt sich also keinesfalls wie ein Großer auf; und wer von seinen Mitmenschen verschmäht wird, muss deshalb noch lange nicht wirklich unwürdig zu sein.

Manche haben Bescheidenheit als die ,Sichtweise eines Menschen' definiert, ,der der Meinung ist, dass er keine Tugend besitzt, die ihren Ursprung in ihm selbst hat'; manche haben sie beschrieben als eine Möglichkeit, die Mitmenschen - demütig und mit dem gebührenden Respekt - so zu behandeln, wie sie es verdienen. Andere gaben an, tawadu hieße, sich für den wertlosesten aller Menschen zu halten, obwohl man doch von Gott eine besondere Behandlung erfährt. Wieder andere definieren Bescheidenheit als ,die Bemühung, jeder Gemütsregung des Ichs gegenüber wachsam zu sein und sie zu unterdrücken'. Jede einzelne dieser Begriffs-bestimmungen stellt eine spezielle Dimension der Bescheidenheit dar. Die letzte Definition bezieht sich allerdings eher auf diejenigen, die Gott Selbst aufrichtig gemacht und in Seine Nähe gebracht hat.

Als ein Gefährte des Propheten einmal sah, wie Kalif Umar Wasser in einem Krug auf seiner Schulter trug, fragte er ihn: „Was tust du da, Nachfolger des Gesandten Gottes?" Umar, der sich wie kaum ein anderer durch seine Nähe zu Gott auszeichnete, antwortete ihm: „Einige Abgesandte sind aus fremden Ländern hergekommen. Ich habe Hochmut in meinem Herzen verspürt und wollte ihn vertreiben." Umar pflegte auch Mehlsäcke auf seinem Rücken zu tragen.[2] Einmal klagte er sich in einer Rede von der Kanzel selbst an, niemals gab er allerdings denen nach, die ihn zu Unrecht kritisierten. Abu Hurayra tat es Umar nach und schleppte während seiner Zeit als Stellvertreter des Gouverneurs von Mekka von Zeit zu Zeit Holz.[3] Als Zayd ibn Thabit Oberster Richter in Mekka war, küsste er die Hand von Ibn Abbas, der Zayd seinerseits aufs Pferd aufzusteigen half, obwohl er doch ein berühmter Koraninterpret und Gelehrter der muslimischen Gemeinde war. Hasan, ein Enkel des Propheten, setzte sich mit einigen Kindern, die nichts als ein paar Brotkrumen besaßen, an einen Tisch und aß mit ihnen gemeinsam. Als Abu Dharr Bilal Habaschi einmal beleidigt hatte, legte er anschließend, um sich zu entschuldigen, seinen Kopf auf den Boden und sagte: „Solange die gesegneten Füße Bilals nicht auf diesen sündigen Kopf treten, wird er sich nicht vom Boden erheben." All diese Beispiele und viele andere mehr künden von einem hohen Maß an Bescheidenheit.

Gott, der Allmächtige, und Sein Gesandter legten so großen Wert auf Bescheidenheit und betonten ihren Wert so nachdrücklich, dass jemand, der sie empfindet, keinen Zweifel daran hegt, dass Dienerschaft und Bescheidenheit die gleiche Bedeutung tragen. Der Koranvers Und die Diener des Erbarmers sind diejenigen, die sanftmütig auf der Erde schreiten; und, wenn die Unwissenden sie anreden, sprechen sie friedlich zu ihnen.[4] rühmt die Bescheidenheit. Gottes Aussagen ...demütig gegen die Gläubigen...[5] und ...doch barmherzig zueinander. Du siehst sie sich (im Gebet) beugen, niederwerfen.[6] sind Lobeshymnen auf eine tief verwurzelte Bescheidenheit, die sich im Verhalten der Diener manifestiert.

Weitere Äußerungen des Propheten zum Thema Bescheidenheit lauten:

Gott hat mir aufgetragen, dass ihr bescheiden sein sollt und gegenüber anderen nicht prahlen sollt.[7]

„Soll ich euch verraten, wem das Höllenfeuer nichts anhaben kann? Das Höllenfeuer wird diejenigen nicht erreichen, die Gott nahe sind, die mit den Menschen auf gutem Fuß stehen und mit denen leicht und angenehm umzugehen ist.[8]

Gott preist den Bescheidenen; denjenigen, der sich selbst gering schätzt, aber in den Augen der Menschen wahrhaft groß ist.[9]

O Gott, mach, dass ich mich selbst für klein halte![10]

Der Stolz der Menschheit lebte selbst ein äußerst bescheidenes Leben:

1) Er verweilte an Orten, an denen sich Kinder aufhielten, begrüßte sie und spielte mit ihnen.[11]

2) Wenn jemand seine Hand nahm und ihn irgendwo hin führen wollte, machte er nie irgendwelche Einwände.[12]

3) Er half seinen Frauen bei der Arbeit im Haushalt.[13]

4) Wenn irgendwo Menschen bei der Arbeit waren, packte er mit an.[14]

5) Er flickte seine Schuhe und seine Kleidung selbst, molk die Schafe und fütterte Tiere.[15]

6) Er saß mit seinen Dienern an einem Tisch.[16]

7) Stets hieß er die Armen willkommen und kümmerte sich um Witwen und Waisen.[17]

8) Er besuchte die Kranken, folgte Begräbniszügen und beantwortete den Ruf der Sklaven in seiner Gemeinde.[18]

Alle Diener Gottes, vom Propheten Muhammad über den Kalifen Umar und den Ummayadenkalifen Umar ibn Abd al-Aziz bis hin zu den zahlreichen Heiligen, den reinen und vollkommenen Gelehrten und jenen, die von Gott mit Seiner Nähe belohnt werden, haben übereinstimmend die Ansicht vertreten, dass Bescheidenheit und Mäßigung die auffälligsten Merkmale der großen Persönlichkeiten der Menschheit sind, während Arroganz und Eitelkeit die Niedrigsten der Niedrigen kennzeichnen. Darum verfolgen jene Großen vor allem das Ziel, den Menschen einen Weg zu weisen, vollkommene Menschen zu werden.

Wahre Bescheidenheit setzt voraus, dass der Mensch weiß, was er gegenüber der unendlichen Erhabenheit Gottes wirklich wert ist, und dass er dieses Wissen zu einem Grundcharakteristikum seiner Persönlichkeit macht. Wer in der Lage ist, dies zu verinnerlichen, ist demütig und in seinen Beziehungen zu anderen ausgeglichen; denn wer seine Nichtigkeit vor Gott erst einmal realisiert hat, ist sowohl im persönlichen Leben als auch in seinen Beziehungen zu anderen stets ausgeglichen.

Ein solcher Mensch gehorcht den religiösen Geboten, denn er hat weder mit den enthüllten Wahrheiten, noch mit den Dingen Probleme, die sich auf den menschlichen Verstand beziehen. Er ist von der Wahrheit aller Botschaften, die der Koran und die authentische Tradition des Propheten verkünden, überzeugt. Wenn ihm irgendetwas, was im Koran erklärt oder durch verlässliche Kanäle dem Propheten zugeschrieben wird, mit dem menschlichen Verstand oder den herrschenden rationalen oder wissenschaftlichen Fakten unvereinbar erscheint, meldet er keine Zweifel an, sondern versucht, die Wahrheit hinter den Dingen zu begreifen.

Daher ist es geradezu absurd, wenn diejenigen, die nicht über Bescheidenheit oder Mäßigung verfügen, versichern, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen Vernunft oder rationalen Prämissen und den enthüllten, überlieferten Religionsprinzipien der Vernunft oder dem Rationalen Priorität eingeräumt werden müsse. Auch die Überzeugung, dass Urteile, die auf Vernunft und Analogieschlüssen beruhen, gegenüber den enthüllten Prinzipien zwangsläufig Priorität genießen müssten, ist ein Irrweg. Die Wunder und die spirituellen Freuden, die auf andere Art und Weise als auf dem Weg des Propheten gewirkt bzw. genossen werden, bewirken, dass Gott deren Urheber ins Verderben führt, weil sie durch ihre ,Erfolge' Unrecht auf sich geladen haben.

Wer Bescheidenheit erlangt hat, ist vollkommen von der Wahrheit all dessen, was der Prophet den Menschen verkündet hat, überzeugt und denkt niemals an etwas Gegenteiliges. Er bemüht sich, die Erfahrungen des Propheten in seinem täglichen Leben umzusetzen. Und wenn etwas anderes - z.B. ein weiser Ausspruch oder eine großartige Leistung - ihn für sich zu gewinnen versucht, indem es vorgibt, schöner oder akzeptabler zu sein, macht er sich selbst Vorwürfe, die unvergleichliche Überlegenheit der enthüllten Wahrheiten nicht angemessen wahrnehmen zu können; er sagt:

„Es gibt viele Menschen, die Fehler in Worten finden, die keine Fehler aufweisen.
Der Fehler liegt jedoch in ihrem fehlerhaften Verständnis."

Wer Bescheidenheit erlangt hat, ist davon überzeugt, dass es unmöglich ist, in der kommenden Welt glücklich zu werden, wenn man Wegen folgt, die Koran und Sunna entgegenlaufen. Die größte Kraftquelle findet er im Dienst an Gott. Jemand, der Gott wirklich verehrt, wird sich niemals dazu herablassen, irgendjemand anderen zu bewundern. Im Gegenzug kann jemand, der sich selbst durch den Dienst an anderen Menschen demütigt, niemals ein wahrer Diener Gottes sein. Bediuzzaman Said Nursi merkt hierzu an:

„Halte niemals etwas anderes oder jemand anderen als Gott für so viel größer als dich selbst, dass er Bewunderung oder Dienerschaft verdienen würde. Rühme dich aber auch niemals, allen anderen überlegen zu sein. So wie alle Geschöpfe gleich weit davon entfernt sind, Anbetung zu verdienen, sind sie sich auch in dem Umstand gleichgestellt, erschaffen worden zu sein."

Wer wirklich bescheiden ist, schreibt sich die Früchte seiner Arbeit und seiner Bemühungen niemals selbst zu und betrachtet seine Erfolge und die Anstrengungen, die er auf dem Weg zu Gott unternommen hat, niemals als Quell der Überlegenheit gegenüber anderen. Ihm ist egal, wie andere Leute über ihn denken, und er verlangt für die Arbeit, die er auf seinem Weg zu Gott geleistet hat, keine Vergütung. Die Anerkennung durch andere betrachtet er als einen Test für seine Aufrichtigkeit, und die Gunstbeweise, die ihm Gott gewährt, nutzt er nicht dazu, vor anderen Menschen zu prahlen.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Bescheidenheit meint nicht nur den Zugang, der zu gutem Verhalten führt, oder den Besitz von Qualitäten Gottes (wie Großzügigkeit, Barmherzigkeit, Hilfsbereit-schaft, die Bereitschaft zu vergeben etc.), sondern Bescheidenheit ist auch das am einfachsten zugängliche und wichtigste Mittel, dem Erschaffenen und dem Schöpfer gleichzeitig nahe zu stehen. Der Mensch wurde hier erschaffen, nicht in den Himmeln. Er ist Gott dann am nächsten, wenn er Ihm gegenüber demütig ist. An den Stellen, an denen der Koran von der Himmelsreise des Propheten berichtet, bezeichnet er Muhammad als Gottes Diener, um so dessen Bescheidenheit und äußerte Anspruchslosigkeit zu betonen.


[1] Haythami, Madschma' az-Zawa'id, 10.325
[2] Ibn Athir, Usd al-Ghaba, 4.165
[3] Ibn Kathir, al-Bidaya, 8.113
[4] 25:63
[5] 5:54
[6] 48:29
[7] Muslim, Dschanna, 64; Abu Dawud, Adab, 40
[8] Tirmidhi, Sifat al-Qiyama, 45
[9] Abu Nu'aym, Hilyat al-Awliya', 7.129
[10] Muslim, Zuhd, 14
[11] Bukhari, Isti'dhan, 15; Muslim, Salam, 15
[12] Qadi Iyad, asch-Schifa', 1.131
[13] Bukhari, Nafaqat, 8; Tirmidhi, Sifat al-Qiyama, 45
[14] Musnad, 2.383; ibn Hisham, Sira, 2.141
[15] Tirmidhi, Schama'il, 78, Musnad, 6.256
[16] Bukhari, At'ima, 55; Muslim, Ayam, 42
[17] Bukhari, Nafaqat, 1, Talaq, 25; Muslim, Zuhd, 41,42
[18] Bukhari, Tafsir Sure 9,12; Muslim, Munafiqun, 3"

 

 

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