Gulen: "Die Demokratie sollte auch eine metaphysische Dimension besitzen"

Radikale Islamisten behaupten ebenso wie einige Säkularisten, der Islam decke alle Lebensbereiche ab. So macht z.B. das Verfassungsgericht geltend, die Türkei könne kein ähnlich liberales weltliches System einführen wie der Westen. Aus dem gleichen Grund sprechen sich radikale Islamisten gegen jede Säkularisierung aus und fordern, der Islam müsse auch den Staat mit einbeziehen. Bis wohin erstreckt sich also der Islam? Was überlässt er dem Individuum und dem Verstand des Individuums?

Die Zivilisation des Menschen hat ein hohes Niveau erreicht. Das Recht auf Glaubensfreiheit und auf ein Leben in Übereinstimmung mit den eigenen Glaubensvorstellungen ist heute von großer Bedeutung. In der Vergangenheit mögen in der Türkei zum Zwecke der Verankerung des Systems andere Punkte im Vordergrund gestanden haben. Heute jedoch herrscht dort Demokratie. Wenn jemand vor 10 Jahren gesagt hat: „Die Demokratie ist ein unumkehrbarer Prozess, dann wurde er dafür einem Verhör unterzogen. [Gülen spielt auf eine seiner Reden aus dem Jahr 1994 an, die er anlässlich der Gründung der ,Stiftung der Journalisten und Schriftsteller' hielt.] Heute ist die Demokratie in aller Munde. Im Rahmen der Demokratie lassen sich Lösungen finden.

Aber wie verhält es sich mit dem Anspruch, der Islam decke alle Lebensbereiche ab?

Solche Stimmen lassen sich auf Grund der verhärteten Fronten nicht aus der Welt räumen. Freundlichkeit und Nachsicht auf der einen Seite werden aber auch die andere Seite besänftigen. Ich glaube, manche Leute befürchten, das Verfahren zum EU-Beitritt könnte als Mittel benutzt werden, den Islam bis ins kleinste Detail zu leben. Diese Sorge erzeugt neue Spannungen.

Aber wie kann ein Mensch, der glaubt, dass die Religion alle Lebensbereiche abdeckt, in bestimmten Punkten zurückstecken?

Religion ist Leben; es wird sie solange geben, wie sie gelebt wird. Die Grundlagen der Religion, die Muhkamat , wie wir sie nennen, haben Priorität und sind nicht in Frage zu stellen. Jedem Muslim sollte gestattet werden, diejenigen Gebote von Koran und Sunna, die sich auf sein eigenes Leben und auf das seiner Familie beziehen, so zu beachten, wie er persönlich sie versteht. Im Hinblick darauf sollte sein Leben keinerlei Einschränkungen unterliegen. Auf der anderen Seite sollten aber diejenigen, die als Muslime leben, alles dafür tun, bestimmte Dinge nicht durcheinander zu bringen.

Von welchen Dingen sprechen Sie?

In der Religion gibt es zweitrangige Dinge, die auf den ersten Blick wie grundlegende Dinge erscheinen mögen. Die täglichen Gebete und das Fasten im Monat Ramadan z.B. sind zwei Grundpfeiler des Glaubens, die individuell befolgt werden müssen. Diejenigen, die zu Extremen neigen, die den Säkularismus bekämpfen, sollten mit Fingerspitzengefühl darauf achten, dass sie selbst die Gebote der Religion für das Individuum und die Familie befolgen. Tun sie dies wirklich so gut sie können? Wenn wir eines unserer täglichen Pflichtgebete oder einen Fastentag verpassen, sollten wir erst darüber nachdenken, bevor wir irgendwelche Forderungen aufstellen, und dann sollten wir vor Gott bereuen. Diese Dinge lassen keine Kompromisse zu. Wer die Grundlagen des Islam, die täglichen Pflichtgebete, die Sozialabgabe und das Fasten im Ramadan versäumt, leistet sich damit einen schweren Fehltritt. Wer andere Menschen verleumdet oder in ihrer Abwesenheit über sie herzieht, begeht ebenfalls eine große Sünde, selbst dann, wenn er Muslime repräsentiert. Der Gesandte Gottes verdammt die Verleumdung als eine unverzeihliche Sünde, die noch schwerer wiegt als Ehebruch. Solange wir solche Vergehen mit uns herumtragen, ist es der Religion gegenüber respektlos, über die Ganzheit und Vollständigkeit der Religion zu debattieren. Um Gottes willen sollten wir unsere Religion zuerst in unserem eigenen Leben, in der moralischen Erziehung und Bildung unserer Kinder und im intellektuellen und spirituellen Leben zu vervollkommnen versuchen .

Und dann...?

Die Früchte der Ganzheit der Religion sollten dann in unserem Leben sichtbar werden. Wir sollten uns von dem Missverhältnis befreien, einerseits leicht erfüllbare Pflichten unserer Religion zu vernachlässigen und schwere Sünden zu begehen und andererseits mit dem Anspruch einer Ganzheit der Religion mit anderen zu streiten. Das wir dies nicht tun, ist unser Fehler. Gelänge es uns jedoch, könnten wir sagen, dass wir Gewissensbisse haben, da wir dieses oder jenes Gebot unserer Religion nicht vollständig erfüllen können. Man sollte es vermeiden, Urteile auf der Basis von solchen Missverhältnissen zu fällen. Lasst uns eine Lösung finden, die innerhalb der Grenzen der Barmherzigkeit liegt!"

Glauben Sie, dass sich eine solche Lösung finden lässt?

Die Demokratie manifestiert sich heute auf unterschiedliche Art und Weise. Es gibt Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale usw.. Warum sollte es keine Demokratie geben, in der islamische Gefühle und Gedanken zum Ausdruck gebracht werden, eine Demokratie, die auch auf den Islam verweist? Wir alle sind Menschen, wir alle haben bestimmte Bedürfnisse. Wir sehnen uns nach Unvergänglichkeit, wir möchten uns nicht in Luft auflösen. Meine Bedürfnisse können nur durch Gott und durch das ewige Leben, das Er uns verheißen hat, gestillt werden. Dürfte ich nicht davon ausgehen, dass es nach diesem Leben ein ewiges Leben gibt, und wüsste ich stattdessen, dass mit meinem Tod alles zu Ende ist, würde ich permanent unter Angst und Depressionen leiden. Aber es gelingt mir, frei zu atmen, denn ich weiß um die Ewigkeit und um die Tatsache, dass ich Gott irgendwann treffen werde. Eine menschliche Demokratie sollte mich mit all meinen Seiten akzeptieren und so gestaltet sein, dass sie auf meine Bedürfnisse eingeht.

Sie sagen auch, die Demokratie sollte eine metaphysische Dimension haben...

Dem Menschsein sollte auf jede mögliche Weise Respekt gezollt werden. Wenn also die Menschen das Bedürfnis nach Metaphysischem verspüren, dann sollte ihnen man ihnen im Rahmen von Erziehung und Bildung zeigen, wie sie dieses Bedürfnis stillen können. Überhaupt sollte kein Bereich vernachlässigt werden. Die Schule, die Straße, das Gebetshaus und die Familie - sie alle sollten den Menschen in den Vordergrund stellen. In einer reifen Demokratie sollte jemand, der an das Jenseits glaubt, die Möglichkeit erhalten, dieses auch zu erfahren; genauso selbstverständlich, wie allen weltlich orientierten Menschen die Möglichkeit geboten wird, in Frieden zu leben. Jeder, der so leben möchte wie die Gefährten [des Propheten Muhammad], sollte die Chance dazu erhalten. Die Demokratie ist auch ein Entwicklungsprozess. Wir [die Türkei] beispielsweise haben schon seit recht langer Zeit eine Demokratie, doch erst die Kopenhagener Kriterien haben uns bewusst gemacht, über welch große Mängel wir nach wie vor verfügen. Dieser Prozess ist noch nicht zu Ende, und mit der Zeit werden wir ein immer höheres Niveau erreichen. Auch der Demokratisierungsprozess der Europäer ist noch nicht abgeschlossen; es kann wohl kaum behauptet werden, dass ihre Demokratie perfekt wäre. Ich glaube, dass eines Tages Bedingungen herrschen werden, die uns ermöglichen, all unsere spirituellen und intellektuellen Bedürfnisse unter dem Schirm der Demokratie zu stillen. Ich sehe, dass wir uns in diese Richtung bewegen. Ich glaube, dass die Spannungen zwischen Säkularisten und Islamisten, und hier möchte ich betonen, dass ich diese Begriffe nur äußerst ungern verwende, eines Tages abflauen werden. Von gebildeten Menschen kann erwartet werden, dass sie keine unangebrachten falschen Ängste hegen, und dass sie einander verstehen.

Beide Seiten?

Beide Seiten.

Inwieweit sind der Staat auf die Religion und die Religion auf den Staat angewiesen?

Die Menschen brauchen Sicherheit und einen Staat, der ihnen ein Umfeld schafft, in denen sie ihre Religion vertrauensvoll und in Frieden leben können. Andererseits braucht der Staat die unbesiegbare Kraft der Religion, die den Individuen dabei hilft, nach Vollkommenheit zu streben, Familie und Gesellschaft zusammenhält, dem Gewissen den Weg weist und die Tore des Herzens öffnet. Damit beugt die Religion so manchem Übel vor. Diese Kraft ist es, die hinter dem Staat stehen muss, und gespeist wird sie durch eine qualitativ hochwertige religiöse Erziehung. Der Mensch ist kein Geschöpft, das allein für diese Welt erschaffen wurde. Wir besitzen viele auf das Jenseits gerichtete Merkmale, und ein säkularer Ansatz versorgt uns nicht mit den Qualitäten, die wir benötigen. Dazu ist nur die Religion im Stande. Angenommen, ein Kind verliert einen Bruder oder einen Freund. Was sagt dann ein Mensch, der an Gott und Jenseits glaubt, zu ihm, und was sagt ein ungläubiger Mensch? Den Trost, den die Religion bietet, bietet kein Gesetz und kein System. Diese Kraft der Religion ist etwas, aus dem wir Nutzen ziehen sollten. Der effizienteste Weg, unsere Jugendlichen vor Drogen, Terror, Satanismus und vielen anderen schlimmen Dingen zu schützen, besteht darin, ihnen deutlich zu machen, dass sie eines Tages für alles, was sie getan haben, zur Verantwortung gezogen werden. Recht und Ordnung reichen nicht aus. Natürlich sollen sie abschrecken, aber viel wichtiger als alles andere sind Erziehung und Bildung. Hier spielt die Religion eine ganz wichtige Rolle.

Viele Menschen denken anders und sagen, eine solche Haltung widerspräche dem Säkularismus.

Ja, das tun sie. Aber ich wiederhole noch einmal, dass die Religion elementar für Erziehung und Bildung ist. An dieser Stelle würde ich gern auf ein Thema zu sprechen kommen, das indirekt mit diesem verwandt ist: General Kenan Evren wurde für seine Behinderung der Demokratie und für viele andere Dinge kritisiert. Indem er die freiwilligen Religionskurse zur Pflicht gemacht hat, hat er jedoch etwas äußerst Sinnvolles getan. Dank dieser von ihm vertretenen Politik haben viele Jugendliche etwas über die Religion gelernt. Gott weiß es am besten, aber ich denke, selbst wenn er sonst nichts Gutes geleistet haben mag, wird ihm dieses eine Machtwort genügen, um ihm im Jenseits zu erlösen und ihm einen Platz im Paradies zu garantieren.

Unsere Politiker sollten den Stellenwert der Religion für Erziehung und Bildung nicht ignorieren. Ansonsten werden sie es schwer haben, von Drogensüchtigen oder Straßenräubern begangene Verbrechen zu verhindern. [Anmerkung des Übersetzers: Die Türkei wird gegenwärtig von einem Ausbruch an Gewalt erschüttert: Einbrüche, Vergewaltigungen und andere Verbrechen, die von Drogensüchtigen, vor allem von Klebstoffschnüfflern begangen werden, stehen dort zurzeit permanent auf der Tagesordnung.] Einzig und allein die Gottesfurcht kann diese Verbrechen stoppen. Viele kranke, verkrüppelte und alte Menschen befinden sich auf der Schwelle des Todes, der ihnen direkt vor Augen steht. Wer sonst als der Glaube könnte den Schmerz in ihren Seelen lindern? Wenn sich die Individuen die unbezwingbare Kraft der Religion zu Nutze machen, können sie spirituell reifen, was wiederum Sicherheit und Ordnung im Staat zu Gute kommt. Im Gegenzug bedeutet dies jedoch nicht, dass man dort, wo die Religion gelehrt wird, auf Recht, Ordnung, Gerechtigkeit, Polizei oder Gerichte verzichtet könnte. Diese sind werden auch für die Zukunft unentbehrlich sein; doch die Zahl der Menschen, die Probleme verursachen, wird deutlich sinken. Ich denke, die meisten Menschen werden mir in diesem Punkt zustimmen.