Osama Bin Ladens Terror auf der einen und Gülens Liebe, Dialog und Verständigung auf der anderen Seite?

Wie ist es möglich, dass der Islam zwei so unterschiedliche Sichtweisen hervorbringt: Osama Bin Ladens Terror auf der einen und Gülens Liebe, Dialog und Verständigung auf der anderen Seite? Beide scheinen auf dem Fundament der Religion zu ruhen.

Bin Laden stammt aus einer großen Familie mit, ich glaube, fast 30 Brüdern und Schwestern. Diese Familie verfügt über eine so große ökonomische Macht, dass sie dem Staat sogar Geld leihen kann.

Auf der Pilgerfahrt traf ich ein Mitglied dieser Familie, einen frommen Menschen. Er erzählte mir, seine Familie habe Osama verstoßen. Dieser sei von den Amerikanern gegen die Russen benutzt worden, und schließlich sei ihm die Einreise nach Saudi Arabien verweigert worden.

 

Von welchem Jahr sprechen Sie?

Ich glaube, es war 1974. Damals zog er einige Aufmerksamkeit auf sich, da man im Kampf gegen die Russen auf ihn setzte. Ich allerdings habe mich nie zu ihm hingezogen gefühlt. Was dann folgte, ist bekannt. Wann immer der Name Bin Laden fällt, denkt man nun sofort an den ,Vater des Terrors'. Die Videobänder, die in unregelmäßigen Abständen veröffentlicht werden, zeigen ihn mit Bart, Turban und einer Waffe in der Hand. Dieses Bild scheint immer und immer wieder in Umlauf gebracht zu werden, um den Hass gegen die Muslime zu schüren.

Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass Bin Laden mit seinen Ideen wahrscheinlich nicht allein steht. Es wird auch noch andere geben, die seine Meinungen und Ziele teilen. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet kann man diese Hand voll Scheusale als Abfall des islamischen Establishments einer muslimischen Welt von insgesamt 1,5 Milliarden Menschen beschreiben, auch wenn man es vielleicht nicht ganz so drastisch ausdrücken sollte. Mit ihrem verbrecherischen Treiben verdunkeln sie das helle Antlitz des Islam und machen jenen Muslimen das Leben schwer, die Außenstehenden gern über den Islam berichten möchten. Dieser Terror ist inzwischen zu einer schweren Last auf dem Rücken jedes Einzelnen von ihnen geworden. Hätten wir all unsere Kräfte, die wir nun darauf verwenden müssen, uns von dieser Last zu befreien, der Aufgabe widmen können, den Menschen etwas über die Schönheiten des Islam zu erzählen, wäre es uns vielleicht gelungen, ihre Herzen zu gewinnen. Wenn sich Muslime heute jemandem vorstellen, müssen sie ihr Gegenüber zunächst einmal davon überzeugen, dass sie keine Terroristen, Radikale oder lebende Bomben sind.

Wie ist es möglich, dass eine einzige Quelle zwei so unterschiedliche Sichtweisen hervorbringt?

Bin Laden kann noch so häufig behaupten, dass er im Sinne von Koran und Sunna handelt. Wenn Gott mich als eines der unbedeutendsten Individuen unter den Muslimen als Verteidiger akzeptiert, dann möchte ich unterstreichen, dass wir uns auf bedeutende islamische Gelehrte berufen können und dass unsere Art zu denken mit der überwältigenden Mehrheit der Philosophen, Soziologen und Islamkenner auf einer Linie liegt.

Nimmt man die Erfahrungen unseres Propheten und der ersten vier Kalifen als Basis für den Islam, ist das Treiben Bin Ladens absolut nicht zu rechtfertigen. Das Wirken des Propheten lässt sich auf keinen Fall auf irgendeine Art und Weise auf das, was Bin Laden tut, übertragen. Betrachtet man die Schlachten des Propheten aus einer philosophischen Perspektive, zeigt sich, dass er lediglich seine Verträge schützte, indem er seine legitimen Rechte gegenüber jenen wahrnahm, die ihn für ihre eigenen Pläne einspannen wollten. Bei anderen Gelegenheiten ging er gegen jene vor, die Verrat an seinem System oder an seinen Verträgen übten. Das war durchaus nichts Außergewöhnliches; auch die Eroberung Mekkas wurde nach einem solchen Verrat vollzogen. Solche Maßnahmen werden auch in der Gegenwart von modernen Demokratien ergriffen, und auch die Vereinten Nationen sprechen sich nicht dagegen aus. Wenn nun einige kommen und sagen, sie seien in den Irak einmarschiert, um diesem die Demokratie zu bringen, dann können sie nicht gleichzeitig das Vorgehen des Propheten kritisieren.

Welchen Standpunkt vertritt Bin Laden?

Da das Handeln des Propheten maßgeblich ist, wird in diesem Punkt deutlich, dass Bin Laden sich offenbar nicht eingehend und umfassend mit dem Thema befasst hat. Er greift sich lediglich einige Abschnitte heraus, anstatt Koran, Sunna und das Verständnis der Salaf-i salihin [bedeutender Persönlichkeiten unter den Gefährten und ihre Anhänger] in ihrem Gesamtkontext zu analysieren. Dafür gibt es ein Beispiel, das häufig zitiert wird: Als die Armee der Muslime die Stadtmauern von Byzanz erreichte, mussten sich die muslimischen Soldaten gegen Steine, Pfeile und brennendes Öl, das von oben auf ihre Köpfe herab geschüttet wurde, erwehren. Da zitierten einige von ihnen den Vers Und stürzt euch nicht mit eigenen Händen ins Verderben [um so zu begründen, warum sie nicht als lebende Zielscheiben dienen wollten]. Als Abu Ayyub al-Ansari (Khalid ibn Zayd) dies hörte, schritt er ein: „Das habt ihr falsch verstanden. Dieser Vers wurde offenbart, um uns zu warnen. Er bedeutet: ,Gebt euren Besitz und euer Leben für die Sache Gottes dahin. Wenn ihr dies nicht tut, werdet ihr euch mit eigenen Händen ins Verderben stürzen.' Damit korrigierte er ihre Fehlinterpretation. Das bedeutet z.B. auch, dass man eine ganze Nation ins Verderben stürzen kann, wenn man sein Leben im Dardanellenkrieg oder im Krieg der Unabhängigkeit [gemeint ist der Unabhängigkeitskrieg des türkischen Volkes] nicht aufs Spiel setzt.

Auch der Vers Tötet die Ungläubigen, wo auch immer ihr auf sie stoßt (2:192) wird von Bin Laden und anderen wörtlich genommen und aus dem Zusammenhang gerissen - ohne Berücksichtigung dessen, was vor oder nach diesem Vers geschrieben steht. Dadurch kommt es zwangsläufig zu Fehlinterpretationen. Dieser Vers besagt nämlich in Wirklichkeit: „Bestraft diejenigen, die euch zunächst akzeptiert und sich euch angeschlossen haben und die sich dann gegen euer Volk gewandt und es mit böser Absicht hintergangen haben. Jeder Staat schützt sich gegen solche Art von Verrat und zieht die Verräter zur Verantwortung. Im Anschluss an diesen Vers heißt es sinngemäß weiter: „Wenn sie umkehren, wieder ihre Gebete sprechen, im Ramadan fasten und auf ihre ursprünglichen Pfade zurückkehren, lasst sie frei!" Die Interpretationen Bin Ladens und anderer sind Produkt einer Methodik, die einzelne Wörter aus dem Zusammenhang reißt.

Gehen Sie davon aus, dass es sich hier um ein rein methodisches Problem handelt?

Ja, die Herangehensweise dieser Leute ist tendenziös. Wenn jemand es versäumt, zu allererst auf den Stolz der Menschheit [den Propheten Muhammad], auf den Koran und auf die Sunna zu schauen, und stattdessen sein eigenes primitives und hartherziges Handeln zum Maßstab nimmt, dann beschädigt er auf diese Weise das Bild der Muslime in der Weltöffentlichkeit. Er tut damit ganz bestimmt nichts Gutes, sondern begeht eine Sünde. Derzeit weiß man nicht, ob Bin Laden schon tot ist oder noch am Leben. Ich hoffe, er ist tot, damit die Muslime Ruhe vor seinem gestörten Geist finden.

Was sagen Sie zu den Entführungsfällen und den Enthauptungen im Irak? Welche Position bezieht die Religion gegenüber diesen Vorfällen, von denen es heißt, sie würden im Namen des Islam durchgeführt?

Zunächst einmal betrachtet die Rechtsprechung die Menschen, die [im Irak] gekidnappt wurden, nicht als Gefangene, sondern als Geiseln, von denen die meisten getötet wurden. Wenn solche Verbrechen dort von Muslimen begangen werden, dann handelt es sich dabei um Morde, die hinter dem Namen des Islam versteckt werden.

Ein wichtiges koranisches Gebot lautet: „Niemand darf für das Verbrechen eines anderen Menschen bestraft werden." Wenn diese Morde eine Reaktion auf das Eindringen einer fremden Macht darstellen sollen, dann hätte man zur rechten Zeit einen couragierten Unabhängigkeitskrieg beginnen müssen.

Beim Einmarsch der USA hätte man die Heere und die Divisionen, mit denen man zuvor so geprahlt hatte, mobilisieren müssen. Man hätte selbst das Risiko unterzugehen in Kauf nehmen müssen, so wie seinerzeit das türkische Volk in den Dardanellen und auf dem Balkan tat. Vielleicht wären die Hälfte der Menschen gestorben, wie einst die türkischen Soldaten in den Dardanellen starben, aber zumindest hätten die Überlebenden ein freies Land repräsentieren können. Nun unschuldige Menschen gefangen zu nehmen und zu töten, um die Amerikaner dazu zu bringen, sich zurückzuziehen, ist inakzeptabel. Man hätte kämpfen sollten, als die Zeit reif war.

Auf diesem Weg erreicht man gar nichts. Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt dieses Themas. Wenn diese Morde von bestimmten (Geheimdienst-) Organisationen begangen wurden, dann deshalb, um für weitere Spannungen zu sorgen. Zum Beispiel ging es ihnen wohl auch darum, türkische Geschäftsleute aus der Region fern zu halten. [Anmerkung des Übersetzers: In der letzten Zeit wurden viele türkische Geschäftsleute und LKW-Fahrer entführt.] Die gewalttätigen Übergriffe auf das Wachpersonal der Botschaften sind unverzeihlich. Es ist unübersehbar, dass bestimmte Kreise für Chaos sorgen wollen. Ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass ein Muslim, der wirklich an Gott glaubt, diese Taten begangen haben kann. Diese Leute müssen verrückt geworden sein.

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