Fena fillah (Auflösung in Gott) Teil-3

Fena fillah (Auflösung in Gott) Teil-3

In den letzten beiden Ausgaben der Fontäne erschienen Teil 1 und 2 von Fena fillah (Auflösung in Gott). Neben einer Einführung ging es vor allem um die Frage, wie man die ambivalenten Aussagen einiger Sufigelehrten verstehen sollte. Im zweiten Teil dieser Serie stellte der Autor drei Kategorisierungen der Sufis zu dem Thema vor – Auflösung in Gottes Akten, Auflösung in Gottes Attributen und Auflösung in Gottes Essenz –, die in dieser Ausgabe um vier weitere Aspekte ergänzt werden.

Die führenden Sufigelehrten haben auch folgende vier Kategorien der Auflösung unterschieden:

      1. Auflösung in der Abkehr von den Menschen: Ein Eingeweihter fürchtet niemanden und setzt auch in niemanden Erwartungen.
      2. Auflösung im Hinblick auf die Wünsche: die Abkehr vom Egoismus und von allen irdischen Begierden, Hoffnungen und körlierlichen Gelüsten.
      3. Auflösung der Willenskraft: die völlige Ergebung in den Willen Gottes.
      4. Auflösung des Verstands: die willentliche Unterordnung des Verstands unter Gott in Anbetracht der Manifestationen Seiner Attribute. Diese Auflösung geht einher mit einem Gefühl von Verblüffung und Verwunderung, da sich die Eingeweihten nicht in der Lage sehen, die in der Sphäre der Kausalität geltenden Kriterien für Denken, Urteilen und Handeln anzuwenden. In der Regel kommen sie nicht umhin, ihrer Verblüffung und Verwunderung Ausdruck zu verleihen. Dschuneyd el-Baghdadi etwa sagte einmal: „Eine Zeitlang weinten die Erd- und Himmelsbewohner zu meiner Verblüffung, doch es kam auch vor, dass ich zu ihrer Verblüffung weinte. In meinem jetzigen Zustand jedoch bin ich weder meiner selbst noch ihrer gewahr.“

Auch die Verblüffung Gedais ist hier sehr aufschlussreich:

Ich habe mich nicht wiedererkannt, so wie ich mich jetzt sehe,
ich frage mich: Ist Er ich oder bin ich Er?
Dies ist der Punkt, an dem Liebende sich selbst verlieren;
ich bin in Flammen aufgegangen, so reiche mir bitte Wasser!

Eine noch tiefergehende Liebe und Verblüffung lassen die folgenden Worte des Autors des Werkes El-Minhadsch durchscheinen:

Ich weiß nicht, bin ich ich oder bin ich Er.
Verwirrt bin ich zwar, sicher nur, dass ich nicht ich selbst bin.
Ich bin ein Liebender oder der Geliebte, vielleicht auch die Liebe selbst.
Trunken bin ich vom Kelch der Einzigkeit, und nicht ich selbst.
Was bin ich? Bin ich ein Phönix, der keine Spuren hinterlässt?
Weit weg von Zuhause bin ich, und nicht ich selbst.
Vergänglich bin ich in der Seele, doch ewig durch den Geliebten.
Durch die Lüfte gleite ich, und ich bin nicht ich selbst.

Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, was Auflösung genau genommen bedeutet, wird uns klar, dass Worte wie diese für einen Meister der Auflösung gar nicht so außergewöhnlich sind. Im Zustand der Auflösung haben diese Menschen – ihrem jeweiligen Rang entsprechend – für nichts anderes Augen als für Gott und richten ihr Herz ganz auf Ihn aus. An dem Punkt, wo ihre Innen- und Außenwelt, ihre Wahrnehmung und ihr Bewusstsein vom Wissen um die Wahrheit durchdrungen werden, erkennen sie allmählich, in wessen Händen alle Macht und auch ihr Schicksal und Sein liegen; zu Ihm wenden sie sich in völliger Ergebung hin, wie die Sonnenblume ihr Haupt zur Sonne hin neigt und ihn mit ihrem ganzen Streben zu erreichen versuchen, tauchen sie immer tiefer in die Wahrheit ein und nehmen wahr, dass alles Sein eine Manifestation des Lichtes Seiner Existenz ist. Fortan sehen sie die Dinge und Begebenheiten mit anderen Augen, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Einzigkeit Gottes, und sie werden mit der Fähigkeit beschenkt, den Kern der Dinge aufzuspüren und beurteilen zu können – jenen Kern, den der Schleier der Körperlichkeit normalerweise verhüllt. Diese Fähigkeit darf als erster Schritt auf dem Weg zur Auflösung in der Wahrheit betrachtet werden.

Die Reisenden auf den Pfaden der Wahrheit geben sich damit aber nicht zufrieden; im nächsten Schritt gelingt es ihnen, mit der Gewissheit fester Überzeugung zu erfassen, dass alles, was im Universum geschieht, einschließlich des Handelns und Strebens der Menschen, in jeder Hinsicht von Gottes Namen und Attributen abhängt und dass alles, was existiert, im Inneren dieser Quellen eine Existenz erlangt hat und aufgeblüht ist. Darüber hinaus wird ihnen bewusst, dass Gottes Macht und Stärke hinter jeglichem Geschehen steckt und dass der Anteil ihrer eigenen Willenskraft an ihrem Handeln begrenzt ist. Sie wenden sich ab von allem schattenhaften Sein, suchen Zuflucht beim Schutz und bei der Herrschaft des Wahrhaft Existierenden Einen und erlangen durch Ihn eine neue Existenz.

In einem weiteren Schritt erkennen die Reisenden mit einiger Gewissheit – mit einer Gewissheit, die sich aus Erfahrung speist –, dass alle Dinge und Lebewesen mitsamt ihrer Essenz, ihren Dispositionen und Eigenheiten durch die Macht Gottes in einer Manifestation Seiner Existenz von der Existenz im Wissen Gottes in eine äußerliche Existenz transferiert worden sind. Die Gefühle der Reisen- den werden jetzt noch tiefgründiger, und sie tauchen ein in die Realität, dass alles durch Ihn existiert und seine Existenz bewahrt. In ihrem Bewusstsein reift die Erkenntnis, dass die in Vers 55:26 formulierte Wahrheit Alles was auf Erden ist, ist vergänglich wie eine Flagge durch das Universum wogt und dass alles, was jemals erschaffen wurde, einerseits dem Verfall unterworfen ist und andererseits durch die Manifestationen der Gottesnamen der Existierende Eine und der Aus sich selbst heraus Existierende Eine erhalten bleibt. Ein Lebewesen, das dieser Manifestationen auch nur einen Moment lang beraubt wird, muss unverzüglich und unweigerlich erlöschen. Und so stoßen sie zu einem noch entfernteren Horizont der Wahrnehmung der Einzigkeit Gottes vor.

Die erste dieser Stufen ist den gewissenhaften Gelehrten vorbehalten, die zweite all jenen Reisenden auf den Pfaden der Wahrheit, deren Willenskraft unerschütterlich ist, und die dritte den Eingeweihten, die wahre Gotteserkenntnis und Einsicht gewonnen haben.

Diejenigen, die den ersten Schritt getan haben, lösen sich in genau dem Maße auf, wie es ihnen die Tiefgründigkeit ihres Bewusstseins um Gott gestattet. Sie sehen einem ‚Wiedererwachen nach dem Tod‘ entgegen. Diejenigen, die den zweiten Schritt getan haben, profitieren von ihrem spirituellen Scharfblick und erleben in ihrer inneren Welt geistige Abwesenheit und Eintauchen; sie finden in Menschenmengen Abgeschiedenheit und in Lärm und Getöse Ruhe. Diejenigen, die den dritten Schritt getan haben, entsagen allen menschlichen Begierden und Hoffnungen. Wo auch immer sie hinschauen, tauchen sie unversehens in die Manifestationen des Wissens und der Existenz Gottes ein. Sie fühlen sich zu allen Seiten von Seinen Zeichen umgeben, geradeso wie es in Vers 2:115 beschrieben wird: Wo immer ihr euch also hinwendet, dort ist das ‚Antlitz‘ Gottes. Wohin ihr Blick auch fällt, verspüren sie Ehrfurcht, sobald sie von Seinen Strahlen eingehüllt werden; und bei allem, was sie schauen, staunen sie über die brennenden Manifestationen Seines Antlitzes und sprechen in vielen Gleichnissen von Ihm.

Wenn Reisende zur Höchsten Wahrheit all diese Stufen hinter sich gelassen haben und zu Meistern der Auflösung in Gott geworden sind, beginnen die Farben des ‚Mit-Gott- Seins‘ überall vor ihnen aufzuleuchten. Sie überschreiten die Grenze einer Dimension des Ausspruchs „Es gibt keine Gottheit“. Diese neue Dimension konfrontiert sie in jedem Moment ihrer Reise, und so gelangen sie in eine andere Dimension des „außer Gott“. Weil ihre Schritte nun raumgreifender werden und weil sie nun permanent mit Gunstbeweisen Gottes bedacht werden, manifestieren sich die universelle Herrschaft und die ungeteilte Existenz an ihrem Horizont. Es kommt die Zeit, da spüren sie, dass Gottes Thron das ganze Universum einschließt; und indem sie die Stufen Reue, Buße und Schuldbewusstsein hinaufsteigen und sich auf diese Weise mit ihrem ganzen Wesen zu Gott hinwenden, tauchen sie in die Lichter Seiner Göttlichkeit ein. Sie ertrinken förmlich in dem Genuss, in den Akten ihrer Anbetung Hochachtung und Ehrfurcht vor Ihm zu empfinden. Und großen Genuss schöpfen sie auch daraus, der Rede Gottes – dem Koran – zuzuhören. Manchmal finden sie sich im Klima einer Selbstbeherrschung wieder, die in Furcht wurzelt, manchmal auf den Hügeln eines Gewahrseins, das auf Ehrfurcht beruht, und manchmal schließlich in den Ozeanen der Barmherzigkeit. Sie durchleben gleichzeitig Sorge und Erwartung, Traurigkeit und Verzückung, und sie geben sich alle Mühe, nie wieder von Seiner Türschwelle weichen zu müssen. Sie schütten Ihm mit jedem Gedanken, jeder Absicht, jeder Äußerung und jedem Atemzug ihr Herz aus und werden zu Vorbildern, die die Gebote Gottes wie in Vers 15:99 gelehrt befolgen: Und (fahre fort) deinen Herrn anzubeten, bis das, was gewiss ist (der Tod), zu dir kommt. Ohne jemals mit ihrer Anbetung zufrieden zu sein, gehen sie unentwegt immer weiter und weiter. Denn sie wissen genau: Wenn sie Halt machen, werden ihr Weg und ihre Reise zu Ende sein, und dann wird ihnen möglicherweise der Ehrgeiz fehlen, ihren Bestimmungsort zu erreichen – den Unermesslichen Einen. Wenn sie hingegen nicht nachlassen in ihrem Streben, werden sie aus den Sphären des Jenseits mit unzähligen Gunstbeweisen belohnt werden.

O Gott! Weise uns den rechten Weg, den Weg derer, denen Du Deine Gunst zuteilwerden ließest, und nicht den Weg derer, die (Deine) Strafe und Verachtung auf sich gezogen haben. Dein Segen und Frieden sei auf unserem Lehrmeister Muhammed, seiner Familie und seinen Gefährten!

Die Fontäne, Oktober-November-Dezember 2016