I'thar (Uneigennützigkeit)

I’thar (Uneigennützigkeit) - anderen Menschen den Vorzug vor sich selbst zu geben, wenn man etwas Gutes tut - bedeutet nach Ansicht der Moralisten, den Gemeinschaftsinteressen Vorrang vor den eigenen Interessen einzuräumen. Den Sufis zufolge heißt es jedoch, alle persönlichen Angelegenheiten hintan zu stellen und sich in völliger Hingabe dem Leben der Mitmenschen zu widmen: sich selbst also in den Anliegen anderer aufzulösen.

Das Gegenteil der Uneigennützigkeit bilden Geiz und Selbstsucht, die aus Habsucht und dem Versessensein auf diese Welt resultieren. Sowohl Geiz als auch Selbstsucht gelten als Gründe für die Entfremdung eines Menschen vom Schöpfer, vom Erschaffenen und von der Welt.[1] Uneigennützigkeit hingegen bringt Großzügigkeit, Güte und vollkommene Tugend hervor. Ein großzügiger Gläubiger teilt manche seiner Besitztümer mit anderen Menschen, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Aus einem gütigen Gläubigen spricht die Haltung, dass sein eigenes Glück vom Glück anderer abhängt und dass er darüber hinaus das Glück anderer dem eigenen Glück voranstellt. Einem Gläubigen mit vollkommener Tugend (Ihsan) wiederum liegt das Wohlergehen anderer sogar dann mehr am Herzen als das eigene, wenn er selber in Not ist. Der Koran weist in Vers 59:9 auf diesen höchsten Grad der Uneigennützigkeit hin:

[Sie] hegen in sich kein Verlangen nach dem, was ihnen gegeben wurde, sondern sehen (die Flüchtlinge gern) vor ihnen selbst bevorzugt, auch wenn sie selbst in Dürftigkeit leben.

Uneigennützigkeit ist wertvoll, wenn sie aus freien Stücken erlangt und ausgeübt wird; keinerlei Wert besitzt sie hingegen, wenn sie jemandem aufgezwungen und unfreiwillig gewirkt wird. Großzügigkeit und Güte, die der Uneigennützigkeit entspringen und Dimensionen der Uneigennützigkeit darstellen, verfügen über unterschiedliche Intensitäten:

Als der höchste Grad der Ehrbarkeit gilt es, wenn ein Mensch seine Seele auf dem Wege Gottes (um der Sache Gottes willen) hingibt; denn auf dem Wege Gottes bedeutet gleichzeitig auch um des Glaubens willen und zum Wohle der Gläubigen.

  • Den zweiten Grad der Ehrbarkeit erreicht derjenige, der im Zweifelsfall zugunsten des Wohles und der Einheit der Gesellschaft seinen (rechtmäßigen) Anspruch auf die Rolle eines Machthabers oder eine ähnlich hohe Position fallen lässt.
  • Der dritte Grad der Ehrbarkeit besteht darin, das (ökonomische) Wohlergehen anderer über das eigene zu stellen.
  • Wenn man anderen gestattet, von den eigenen Erkenntnissen und Ideen zu profitieren, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen, so ist dies eine Tugend, die als nicht ganz so hoch eingeschätzt wird wie die zuvor genannten Tugenden.
  • An andere Menschen zu spenden - dieser Punkt umfasst die Pflichten der vorgeschriebenen und freiwilligen Abgaben (Zakat und Sadaqa).
  • Beispiele für Uneigennützigkeit, um die sich fast jeder Mensch in jeder Situation bemühen kann, liegen darin, Entgegenkommen zu zeigen, mit freundlichen und warmen Worten zu sprechen, anderen zu helfen und ganz allgemein Gutes zu wirken.

Bei der ersten dieser unterschiedlichen Intensitäten von Großzügigkeit und Güte handelt es sich um eine tiefgründige und elementare Dimension der Uneigennützigkeit, die nicht jeder erreichen kann. Mawlana Dschami‘[2], der Autor des Werkes Baharistan (Das Land des Frühlings) bringt es in bemerkenswerter Weise auf den Punkt:

Es ist einfach, Großzügigkeit mit Gold und Silber zu bezeigen,
Respekt aber verdient der, der Großzügigkeit mit seiner Seele erweist.

Einige charakteristische Merkmale von Menschen, die Uneigennützigkeit praktizieren, lauten:

  • Sie geben anderen Speis und Trank und nehmen dabei in Kauf, selbst Hunger und Durst zu leiden. Sie vernachlässigen also ihr eigenes Wohl zugunsten des Wohles anderer. Diese Eigenschaft, sofern sie keine Rechte Außenstehender verletzt, zeichnet wahrhaft fromme, erhabene Menschen aus.
  • Allen Schwierigkeiten zum Trotz, betrachten sie ihren ganzen Besitz als einen Gunstbeweis Gottes und geben ihn dahin auf dem Wege Gottes - allein um Seines Wohlgefallens willen und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass sie anschließend schnell wieder vergessen, was sie Gutes getan haben. Diese Eigenschaft bleibt all jenen vorbehalten, die Gott sehr nahe stehen. Ihnen bereitet es eine weitaus größere Freude zu geben als zu nehmen.
  • Sie schreiben alle Gunstbeweise, mit denen sie gesegnet sind, allein Gott zu; und sie verwehren sich entschieden gegen den Gedanken, sie selbst seien diejenigen, die Gutes bewirken. Sie erwarten für das, was sie tun, keinen Lohn, auch nicht in Form von spirituellen Freuden. Sie sind Gottes ständig gewahr und nehmen sich selbst als den Schatten des Lichtes Seiner Existenz wahr.

Dieser letzte Punkt wird nur von jenen erreicht, die Gott am nächsten stehen; so auch vom erhabensten Repräsentanten der Menschheit, dem Propheten Muhammad, der der bedeutendste Mensch aller Zeiten war. Seine Himmelsreise demonstriert, dass ihm als Belohnung für seine unablässigen Bemühungen um vollkommene Gotteserkenntnis die höchste Ehre zuteil wurde, zu einem Vorbild zu werden (dem alle Engel und viele Menschen und Dschinn nacheifern). Seine Rückkehr aus den Sphären jenseits der Himmel zu den Menschen auf der Erde war ein so großartiger Akt der Uneigennützigkeit, dass niemand jemals in der Lage sein wird, diesen zu übertreffen. In der Tatsache, dass er das Paradies wieder verließ und mit seinen Tränen die Abgründe der Hölle benetzte, um die Menschheit zu erretten, manifestiert sich die größtmögliche Uneigennützigkeit.

O Gott, um des von Dir auserwählten Propheten Muhammad willen, lass uns, selbst wenn die Armut ihr Schicksal ist, zu jenen gehören, die das, was ihren Brüdern und Schwestern in der Religion gegeben wurde, nicht mit Missgunst betrachten, sondern diese der eigenen Person vorziehen. Dein Segen und Frieden sei auf unserem Lehrmeister Muhammad und Seiner Familie und Seinen Gefährten!

Anmerkungen

[1] Tirmidhi, Birr, 40

[2] Mawlana Nur ad-Din Abd ar-Rahman ibn Ahmad al-Dschami‘ (1414-1492) wird oft als der letzte klassische Dichter Persiens bezeichnet. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Liedtexte und Hirtengedichte, aber auch viele Prosawerke. Sein Buch Salaman und Absal ist eine Allegorie auf die profane und die heilige Liebe. Von Mawlana Dschami‘ stammen außerdem die Werke Haft Awrang, Tuhfat al-Ahrar, Layla wa Madschnun, Fatihat as-Schabab, Lawa’ih, ad-Durra. [Anm. des Übers.]