Pessimismus und das Zeitalter des Gewissens

Pessimismus und das Zeitalter des Gewissens

Der Pessimismus – man kann ihn als einen Zustand beschreiben, in dem man alles um sich herum negativ bewertet und jeden Umstand schwarzsehend interpretiert. Er begleitet den Menschen seit es ihn gibt, er hat sich mit dem Menschen bis in die Gegenwart getragen und wird auch in Zukunft nicht von ihm lassen. Er ist eine menschliche Krankheit, eine Epidemie, die katastrophale Ausmaße annehmen kann.

„Wie viele Seelen, rank und schlank wie Zypressen, wie viele Sultane rosengleichen Angesichts, wie viele Welteroberer, wie viele Herrscher“ befinden sich in den Klauen dieser unbarmherzigen Krankheit und verwelken wie Blätter im Herbst, verfliegen wie ein verkohlter stattlicher Baum, sind verstreut wie von einem Erdbeben herausgebrochene Felsbrocken; sie alle „sind verwüstet, zu Staub verfallen, vergangen“. Das Vergangene ist vorüber, und doch ist diese Todesreise heute immer noch sehr beliebt und Tausende schließen sich freiwillig dieser Karawane des Todes an.

Dem Pessimisten zufolge dreht sich das Leben stets um den Strudel des Todes, die Welt driftet ins Ungewisse ab und die Erdoberfläche mit ihren bruchhaften Verwerfungen versetzt die Herzen in Furcht und Schrecken. Die Menschen stellen einander Fallen, jagen und vertilgen sich. Die Tage werden stetig dunkler und alles scheint im Chaos geboren zu werden und im Chaos zu versinken. Aus dieser Sicht betrachtet steht dem Kosmos jeden Moment Verheerung bevor. Die Erde kann infolge von Erdbeben jederzeit zusammenbrechen und kollabieren; Dörfer, Ortschaften und Städte können sich in Gräber verwandeln, die Tausende von Menschen in sich begraben. Die Gesellschaft kann immer ernst zu nehmendere Erosionen erleben. Was bisher geschah, kann nicht rückgängig gemacht werden; in Zukunft können noch viele weitere Werte über Bord geworfen werden und alles, was sich verändert, wird „für immer und ewig“ so bleiben. Die Kriege und Konflikte sowie die Aufstände und Revolutionen, die wir in den kommenden Jahren erleben werden, könnten das Ende der Welt, der Zivilisation und der Nationen bedeuten. So sieht das Weltbild des Pessimismus aus, das hört er, das sieht er, so interpretiert er und mit unheilvollem Aufschrei rauft er sich die Haare. Pessimistische und hysterische Menschen betrachten seit jeher – wenn man die unzähligen Katastrophen der fernen Vergangenheit außer Acht lässt – den Russisch-Osmanischen Krieg[1], den Balkankrieg, die beiden Weltkriege, die Konflikte in Russland, Europa und dem Pazifik als Anfang vom Ende und Vorboten des Weltuntergangs.[2]

Man kann die Krisen, Veränderungen und Revolutionen in der Weltgeschichte nicht pauschalisierend als ausschließlich negativ betrachten. Denn oftmals haben sie im Nachhinein dem Menschen etwas Positives beschert. Sie waren Wegbereiter einer neuen geistigen Renaissance. Einen ähnlichen intellektuellen und spirituellen Wandel haben die Propheten und diejenigen, die ihrem Wege folgten, mit ihrem Wirken hervorgerufen.

Soll doch die verzerrte und religionsfeindliche Ideologie die Bewegung des Monotheismus für zerstörerisch erklären. Soll doch der Materialismus den Glauben an transzendente Wahrheiten als eine Katastrophe ansehen. Sollen doch [auf der anderen Seite] all jene von schwacher Willenskraft, die sich auf der Stelle bewegen, ständig von „alten Zuständen und alten Mustern“ schwärmen. Wir sind der festen Überzeugung, dass der geistige Wandel ein Akt der Erneuerung, der Wiederbelebung und Öffnung zur Ewigkeit ist.

Da es nun auf der Welt grundsätzlich neben dem Segensreichen auch das Schlechte gibt, neben dem Guten das Böse, neben dem Schönen das Abscheuliche und neben dem Nutzen den Schaden, erregt das vom Menschen hervorgerufene Schlechte oft mehr Aufmerksamkeit als das Schöne am Leben und dem Erlebten, als Harmonie, Integrität und Aufrichtigkeit. Das hat zur Folge, dass Dinge, die eigentlich das Potenzial zum Guten in sich tragen, als schlecht betrachtet werden.

Daher scheint es passender, einige Krisen und Umwälzungen als Läuterungs- und Reinigungsprozess von Gedanken und Systemen aufzufassen, die veraltet sind, ihre Spannkraft verloren haben und vor dem Untergang stehen, auch wenn sie dem Anschein nach Schauder erregend sein mögen. Dieser Läuterungsprozess und die Veränderungen im Leben mag den einen oder anderen, der schwach und erschöpft ist, erschüttern und beängstigen; Menschen jedoch, die voller Energie und Lebensfreude sind, werden dies stets als Anlass betrachten, der sie ausrüstet, um zu völlig neuen Horizonten aufzubrechen.

Eigentlich ist die gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte von Veränderungen und Wendungen und somit auch eine Geschichte von lebensnotwendigen Entwicklungen und Neuanfängen. Gesellschaften, die sich mit den historischen Gegebenheiten und Entwicklungen nicht anfreunden können und der Zukunft nicht offen gegenüberstehen, sind dazu verurteilt, in diesem Prozess der Veränderung und Erneuerung auf der Strecke zu bleiben. Die Ideengeber der Zukunft hingegen und all jene, die heldenhaft mit den gegebenen Umständen umzugehen wissen, haben diese verworrenen Wege stets mit Leichtigkeit überwunden und genießen die angenehme Witterung der Zukunft.

Seit jeher neigen oberflächliche Sichtweisen und Denktraditionen die das Sichtbare vergöttern, dazu, bei scheinbar negativen Gegebenheiten stets schwarzzusehen, das Schlimmste zu befürchten und ihren tiefschwarzen Gedanken Stimme zu verleihen. Auf dem Nährboden dieser Ereignisse, die für sie nur zappenduster waren, wachsen und gedeihen heute paradiesische Gärten. Geschehnisse, die wie Schnee und Eis alles bedecken, stimmen das Lied von allgemeinem Aufbruch und Wiederbelebung an. Die weitverbreitete Verdrießlichkeit und die Krisen und Depressionen, die alle Schichten der Gesellschaft berühren und deren wir allenthalben Zeuge werden, bringen in den Tiefen der Seele und des Verstandes den Gedanken universellen Friedens und universeller Sicherheit hervor und beschleunigen die Verwirklichung der Welten, wie wir sie uns in unseren Träumen ausmalen.

Solange die Dynamiken und Fundamente, auf die der Glaube und die gemeinsamen Grundwerte einer Gesellschaft aufbauen, geschützt bleiben, stellt im Grunde genommen keine Veränderung und kein Wandel eine Bedrohung für die Zivilisation und die Gesellschaft dar. Im Gegenteil: Jede große Erschütterung und Revolution ist – je nach Größe und Bedeutung – ein lebenswichtiger Schritt, der die Tür zu neuen Gedankensystemen und neuen Zivilisationen einen Spalt weit öffnet. Ist es nicht genau diese Wechselbeziehung und dieses gegenseitige Befruchten und Bestärken, das dazu führte, dass beide Entwicklungen bis heute ihren Fortgang nehmen, ohne sich gegenseitig auszumerzen? Und so wie es aussieht, wird dies auch in Zukunft so weitergehen. Solange manche Historiker und Kommentatoren bestimmte Ereignisse nur aufgrund ihres abstoßenden Äußeren beurteilen und sie sich von diesem geistigen Unrat, der ihre Vorstellungen befleckt, nicht freimachen können, werden sie im Pessimismus gefangen bleiben und mit ihrer wahnhaften Auslegung geschichtlicher Ereignisse den klaren Blick vieler Menschen trüben. Sie können gerne in ihrer Täuschung verharren, jedoch folgt auf jede Nacht ein neuer Tag, Schnee und Eis, Hagel und Sturm nähren den Frühling in ihrer Brust und „der lauteste und kräftigste Ruf aller zukünftigen Veränderungen wird die Stimme der Wahrheit sein”.

Natürlich wird es wie in der Vergangenheit auch in Zukunft weiter zu Konflikten auf der Erde kommen. Aber es ist zu erwarten, dass sie zumindest in einigen Teilen der Erde abnehmen. Der universelle Frieden, den wir uns alle herbeisehnen, wird nicht gänzlich Wirklichkeit werden; allerdings wird er im Vergleich zu heute weiter verbreitet sein. Stürme von Aufruhr und Revolution werden uns mancherorts in Furcht versetzen, aber sie werden wohl etwas humaner verlaufen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass auch in Zukunft die Zeit ihre eigene Interpretation aufzeigen und jeder einen Anteil daran haben wird. In einer Welt, die immer mehr zusammenwächst, werden gesellschaftliche und internationale Beziehungen auf der Grundlage dieser zeitlichen Rahmenbedingungen verwirklicht werden. Die fortschreitende Wissenschaft, die Vernunft, das Urteilsvermögen und die Quellen der Inspiration werden sogar die Strudel der grausamsten Veränderungen aufweichen und gefügig machen, um die Grenzen der Menschlichkeit zu wahren und dieses Zeitalter zu einem Zeitalter des Gewissens zu verwandeln.


[1] 1877–1878, im Türkischen auch „93 Harbi“ genannt, da dieser Krieg im Jahr 1293 des Rumi-Kalenders stattfand, ein Solarkalender, der auf dem julianischen Kalender basierend mit der Hidschra, der Auswanderung Muhammeds nach Medina im Jahr 622, beginnt.

[2] Da der Artikel im Jahre 1996 verfasst wurde, wird an dieser Stelle wohl ein mit dem Millennium in Verbindung gebrachter Weltuntergang gemeint sein.

Die Fontäne, April-Mai-Juni 2017