Von Oberflächlichkeit bedroht

Menschen, die ausschließlich das vergängliche Antlitz und die physischen Grenzmarken der Welt wahrnehmen, verbringen ihr Leben in Finsternis. Denn obwohl das menschliche Bewusstsein doch so unendlich weit ist, entscheiden sie sich aus freiem Willen dafür, ihr Dasein in einem Kerker zu fristen. Wenn sie dann unter selbst verschuldeten Gefühlen der Beklemmung leiden, flüchten sie sich in Träume von vergangenen Zeiten, die ihnen erstrebenswerter und glanzvoller erscheinen, oder suchen Trost in Wunschbildern von der Zukunft. Anstatt die gesegneten Tage und Stunden der Gegenwart zu meistern oder sie mit den Farben ihres Herzens zu schmücken und anstatt die unermesslichen Tiefen ihrer Seele auszuloten, verharren sie in der Vergangenheit und ignorieren Gegenwart und Zukunft. Oder sie setzen ihre Hoffnung in eine rein fiktive Zukunft, die jeder Grundlage entbehrt und in keinerlei Beziehung zur Realität steht. Natürlich sind solche Fluchten alles andere als segensreich. Aber die Betroffenen scheinen dies nicht einzusehen.

Selbstverständlich darf die Zukunft nicht außer Acht gelassen werden, vielmehr muss sie Zielpunkt unserer Projekte für Aufbau und Erneuerung sein. Wir sollten sie stets im Geiste der Gemeinsamkeit angehen und ihr gebührenden Respekt entgegenbringen. Und auch unsere Vergangenheit sollten wir in positiver Erinnerung halten. In ihr liegen unsere spirituellen Wurzeln, und das dürfen wir nicht vergessen. Doch darüber hinaus müssen wir die Zeit, in der wir uns heute wiederfinden, zu schätzen lernen und sie sorgsam nutzen. Eine solche Haltung dem eigenen Leben gegenüber dürfte meiner Ansicht nach vielen dabei helfen, das Gefühl der Enge zu vertreiben, das sie bedrückt und zu ersticken droht. Denn sich pessimistisch gestimmt in Geschehnissen aus der Vergangenheit zu verkriechen oder schwärmerischen Träumereien von der Zukunft nachzuhängen und dabei alle Fakten und Realitäten zu vernachlässigen, führt nirgendwo hin. Bis zum heutigen Tage jedenfalls haben diese Fluchten keinem anderen Zweck gedient, als unsere unerfüllten Sehnsüchte, unsere Trauer und unsere Enttäuschung zu verstärken.

Wie bitter ist es doch, dass manche ihr Leben an eine Flut eitler Fantasien verschwenden; dass sie es versäumen, ihren Glauben und ihre Bindung zu Gott stärken, und sich deshalb nicht über die Entbehrungen und Spannungen ihrer Situation hinwegsetzen können! Für diese Menschen ist das Leben so kurz und limitiert. Es ist zu eng und zu flach, um all ihre Wünsche zu befriedigen, und es wird ihren unendlich vielen Gefühlen nie ganz gerecht werden können. Das Leben ist extrem unverlässlich. Wir selbst können es niemals zur Gänze ausschöpfen, und es gibt auch anderen Menschen nie so viel, dass sie in jeder Hinsicht zufrieden wären. Ob du dein Leben wirklich besitzen kannst, ist völlig unklar. Die ganze Zeit über trägst du es auf den Schultern, und dann verlässt es sich dich in einer namenlosen Kurve, ohne dir Lebewohl zu sagen. Niemand von uns hält ein Schreiben in Händen, auf dem steht, wie viel Zeit er in dieser Welt verbringen wird. Ob wir der Formulierung, durchschnittliche Lebenserwartung' vertrauen können, überlege sich jeder einmal selbst. An jedem Morgen und jedem Abend, eben zu jeder Tages- und Nachtzeit können wir gänzlich unerwartet und ohne eine Chance uns vorzubereiten aus dieser Welt abberufen werden - während wir mit irgendwelchen Dingen beschäftigt oder in Arbeit vertieft sind ebenso wie beim Überqueren einer Straße. Der Sufidichter Yunus Emre drückte es einmal so aus:

In einen Sarg wird man dich legen
und dich in die Dunkelheit absenken;
ohne dass dich irgendjemand begleiten würde,
wird man dich dem Erdboden übergeben.

Im Grab endet alles für uns. Dort werden wir endgültig von allem getrennt, was wir hinter uns gelassen haben; von unseren Besitztümern und auch von unseren Kindern. Die Lebenden ihrerseits trauern und besuchen in ihrem Schmerz die Begräbnisfeier. Sie sind von einem Moment auf den anderen konfrontiert mit der Nichtexistenz. Doch wie merkwürdig, wir ziehen dieses Ende einfach nicht in Betracht! Jedes Leben setzt sich zusammen aus einer Kombination von Tausenden Faktoren. Es dauert bis zu einem bestimmten Tag, und man weiß vorher, dass es irgendwann einmal enden wird. Dieses ganz individuelle Leben wird es so nie wieder geben. Und ist es dann schließlich vorüber, so wird die Akte geschlossen, und eine neue Phase beginnt: eine Phase der Abrechnung, allen anderen Phasen übergeordnet. Bezeichnen wir sie einmal als Phase des allgemeinen Lebewohlsagens: dem Leben, der Schönheit, allen Dingen, die wir so genießen, allen Hoffnungen und Erwartungen, die jetzt beiseite gelegt werden.

In diesem Zustand, in dem alle Wünsche dahinschwinden, alle Illusionen zerplatzen, alle Hoffnungen welken, jede Trauer noch düsterer wird und sich alle Ideale in unerfüllte Träume verwandeln, werden ausnahmslos alle Menschen zittern und bangen. Manche von ihnen werden auf die Knie fallen, aber es wird nicht mehr viel zu retten sein. Wenn sie sehen, dass sie gestürzt sind und unter der Erde begraben liegen, werden sie niedergeschlagen sein und nachdenklich. Sie werden stöhnen vor Verzweiflung und bei dem Gedanken, dass sie genauso sterblich sind wie alle anderen, schwitzen. Und sie werden sich bitter beklagen, wenn sie sehen, wie ihre kristallenen Paläste zerspringen, ihre Träume zerschellen und alles zum Erliegen kommt: jedes fröhliche Lachen, jedes Lieben und Geliebtwerden, ja sämtliche Freuden des Lebens. Stattdessen werden von nun an die Winde des Herbstes in ihren Seelen rauschen, und aus jeder einzelnen Bö werden sie das Vergehen jeglichen Lebens heraushören. Mit diesem Gefühl eines allgegenwärtigen Vergehens fließen all die Philosophien, Zivilisationen und Kulturen, die wir als die aus gemeinsamen Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen von Millionen oder gar Milliarden von Menschen gewebte menschliche Ordnung bezeichnen dürfen, der gleichen verschwommenen und unbestimmten Leere entgegen; einer Leere, in der die Neuankömmlinge nurmehr Schatten sind und die Aufbrechenden in chaotische Träume entschwinden. Substanzlose Hüllen, verschwommene Linien und kalte Abwesenheit treten an die Stelle aller Aktivitäten und all dessen, was einst in rosaroten Farbtönen aufblitzte. Einst farbenprächtig leuchtende Schönheiten verblassen, ehedem strahlende Gesichter büßen jeden Glanz ein, und auch die verführerischen Attraktionen, die der Tote früher einmal gekannt hat, verlieren jede Anziehungskraft. Das unwiderrufliche Ende dieses flüchtigen Lebens ist nicht länger zu leugnen, und die so geliebten Gesichter ähneln nun Herbstblättern auf jenem Pfad, der von der Nicht-existenz ausgetreten wurde.

Einigen erscheinen die Narben, die der Tod in ihrer Seele hinterlässt, so tief, dass sie schockiert sind angesichts auch all der anderen Menschen und Gemeinschaften, ja sogar aller Existenzen und Universen, die mit ihnen in diese Leere aufbrechen und sich ins Nichts hinein ergießen. Sie erleben ihren persönlichen Alptraum. Diese Menschen stimmen unablässig Melodien der Sehnsucht und der Trauer an, und ihre wehmütigen Seufzer sind nicht zu überhören. Ihre finstere Umgebung hallt wider von der Klage, in diese Wildnis geworfen worden zu sein. Egal ob sie jung oder alt gewesen mögen - wer sein Leben allein in den Grenzen des Körpers und der materiellen Welt gelebt hat, wird nicht umhin kommen, solcher Trauer und Enttäuschung ausgesetzt zu werden.

Alkohol, Glücksspiel, Zerstreuung und ein achtloses Leben versprechen ein kurzes Wohlgefühl, das in einem Zustand der Selbstvergessenheit empfunden wird. Was die Glückseligkeit betrifft, so haben diese Dinge jedoch rein gar nichts zu bieten. Im Gegenteil, wer süchtig nach ihnen wird, für den bedeuten sie Stress, Leid, Ausschweifung und Wahnsinn. Solche Menschen krümmen sich unentwegt vor Schmerzen, sie verfallen in dunkelste Trübsal und geraten nicht selten völlig außer sich.

Glaube, Hoffnung und ein offenes Bewusstsein befreien uns aus unserer Beschränktheit und weisen uns den Weg in die behaglichen weiten Sphären unserer Seele. Sie ermöglichen uns, tief durchzuatmen, indem sie die Wolken von Häresie, Unglaube, Zweifel und Zögern vertreiben. Sie verwandeln Kerker in Paläste und lassen uns der himmlischen Brisen gewahr werden. Sie erhöhen die doch eigentlich so belanglose Spezies Mensch auf eine Stufe, die sonst nur Universen gebührt, oder sogar noch weiter. Ob all das, was hier angesprochen wurde, aber einem Menschen plausibel gemacht werden kann, der sich in seiner körperlichen Existenz verloren hat und die Weite seiner Seele verkennt, vermag ich nicht zu sagen.

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