Im Islam sind fünf Gebete am Tag Pflicht. In den äußersten Polarregionen dauern ein Tag und eine Nacht jedoch jeweils sechs Monate und zwar insofern als dass die Sonne entweder immer sichtbar oder immer unsichtbar ist. Wie soll der Mensch dort nun beten?

Dieser Einwand wurde schon oft vorgebracht, um die Allgemeingültigkeit des Islam in Frage zu stellen. Sie behaupten, der Islam erhebe zwar den Anspruch, als weltweite bzw. allgemein gültige Religion anerkannt zu werden, seine Verhaltensregeln (wie z. B. Fasten oder die Pflichtgebete) seien aber in den äußersten Polargebieten nicht praktizierbar. Zunächst einmal sollte man sich bewusst machen, dass kein anderes System, z.B. in der Wirtschaft oder in der Finanzwelt, die Universalität erreicht hat, über die der Islam verfügt und die er auch in der Zukunft behalten wird. In der heutigen Zeit stehen wir vor einer riesigen Auswahl an unterschiedlichen Systemen, in denen so viele Fehler stecken, dass man sich schämen müsste, würde man sie als zuverlässig oder universell bezeichnen. Zu ihnen gehören einige, die noch zu Lebzeiten ihrer Urheber korrigiert wurden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das marxistische Wirtschaftssystem wurde mit Engels Unterstützung von Marx selbst überarbeitet. Bei jeder ,Internationalen' wurden darüber hinaus weitere Veränderungen vorgenommen, die diesem System jedes Mal eine neue Gestalt verliehen.

Was auf die Wirtschaftssysteme von heute zutrifft, gilt auch für alle anderen von Menschen geschaffenen Systeme. Der Grund für ihre Mängel und ihr Scheitern liegt offensichtlich darin, dass sie eben auf den Menschen zurückgehen.

Wie viel Prozent der Weltbevölkerung leben denn überhaupt in den äußersten Polarregionen? Darf man den Islam denn wirklich dafür kritisieren, dass er für höchstens ein Fünftel eines Prozents der Weltbevölkerung nicht praktizierbar ist? Die überwiegende Mehrheit der Menschheit stößt bei der Umsetzung der Normen und Vorschriften des Islam auf keinerlei Probleme: Dies berechtigt uns sehr wohl, die Allgemeingültigkeit seiner Normen und Vorschriften zu beanspruchen. Den extremen Ausnahmefall heranzuziehen und mit ihm die Vorschriften zu kritisieren, anstatt zu begreifen (wozu uns das bekannte Sprichwort auffordert), dass die Ausnahme die Regel bestätigt, zeigt doch, dass diejenigen, die diese Zweifel säen, dies aus Motiven heraus tun, die sich weder mit Aufrichtigkeit noch mit wahrhaft wissenschaftlichem Interesse in Einklang bringen lassen. Die Frage, die hier gestellt wird, ist eine abstrakte, hypothetische Frage. Leben denn in jenen entlegenen Polarregionen überhaupt Muslime? Wird sie etwa gestellt, weil es in jenen Regionen Muslime gibt, die wirklich mit dem Problem konfrontiert sind, dort regelmäßig ihre Gebete verrichten zu müssen?

Denjenigen, die diese Frage in voller Aufrichtigkeit aufwerfen, möchte ich jedoch versichern, dass der Islam den Muslimen die Mittel zur Lösung von Problemen wie diesem nicht vorenthält. Speziell dieses Problem wurde nämlich schon in der Frühzeit des Islam ausgeräumt. Zwischen dem Propheten Muhammad und seinen Gefährten fand nämlich einmal eine Unterhaltung statt, die im Sahih von Bukhari und im Musnad von Ahmad ibn Hanbal überliefert ist. In diesem Hadith sagt der Prophet: Wenn sich die Leute von der Religion abwenden, wird der Dadschdschal (Scharlatan, Betrüger, Antichrist) erscheinen. Und in einem anderen Hadith heißt es weiter: Der Dadschdschal kommt aus dem Osten und bereist in vierzig Tagen die ganze Welt vom Anfang bis zum Ende. Einer seiner Tage entspricht einem eurer Jahre. Ein anderer seiner Tage kommt einem eurer Monate gleich, und ein weiterer seiner Tage deckt sich mit euren Wochen, und die anderen Tage sind so wie eure Tage. Die Gefährten fragten: Wird man an einem Tag, der ein Jahr lang ist, mit fünf Gebetszeiten auskommen? Und der Prophet erwiderte: Nein! Aber zu jener Zeit soll man Berechnungen anstellen![1] Dies bedeutet, dass man jene Monate, die aus nur einem Tag und einer Nacht bestehen, in Abschnitte aufteilen und entsprechend beten muss.

Wenn sich islamische Rechtsgelehrte mit diesen Themen beschäftigen, können sie erleichtert sein: Das Problem ist einfach zu lösen, und die Frage scheint nicht länger schwierig zu beantworten. Vom Werk al-Umm des Imam Schafi’i über das Minhadsch der Rechtsschule Schafi’is bis hin zu den Büchern der hanafitischen Rechtsschule und dem Kommentar at-Tahtawis - in all diesen Schriften wird das Problem behandelt und im Einvernehmen aus der Welt geschafft. Das Urteil dieser bedeutenden Gelehrten des Islam kann man in den entsprechenden Kapiteln ihrer Bücher über Gebete und deren richtige Zeitpunkte finden. Ich möchte hier nur einige wenige der von ihnen angeführten Punkte anschneiden, die für unsere Frage relevant sind.

Grundlage für die Gebetszeiten sind Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und die zwischen ihnen liegenden Sonnenstände. Egal um welche Erdregion es sich handelt, gebetet werden muss während einer bestimmten Zeitspanne, die auf Sonnenstand bzw. -bewegung in der jeweiligen Region basiert. Lebt man aber in einer Erdregion, in der dieser Stand bzw. diese Bewegung nicht eindeutig bestimmbar sind, müssen die dort lebenden muslimischen Einwohner den Gebetszeiten der ihnen am nächsten gelegenen Region folgen, in der solche Bewegungen oder Positionen genau auszumachen sind.

So wie es notwendig und natürlich ist, morgens aufzuwachen, zu essen, zu trinken usw. und in der Nacht zu schlafen, ist es auch natürlich, die Gebete innerhalb der festgelegten Zeitspanne zu verrichten. Um unsere physischen Bedürfnisse zu befriedigen, folgen wir selbst in Gebieten, in denen die Sonne monatelang nicht auf- bzw. untergeht, angeborenen, instinktiven Gesetzen. Entsprechend gehorchen wir auch den Gesetzen der Religion, was Beten, Fasten und Pilgerfahrt betrifft.

Kurz, ganz sicher hat der Islam nicht dabei versagt, die hier gestellte Frage vorauszusehen, ganz unabhängig davon, warum sie überhaupt gestellt wurde. Er hat das Prinzip eingeführt, dass der Zeitplan der nächstgelegenen Region, für die ein Zeitplan festgesetzt wurde, zu befolgen ist.

An dieser Stelle ist es angebracht, noch ein anderes Thema zur Sprache zu bringen. Einige Leute haben vorgebracht, dass keine Pflicht zu beten besteht, solange es auch keine Gebetszeit gibt. Folgt man dieser Darstellung, betrachtet man die Zeit als eine Ursache oder Voraussetzung für das Gebet. Der eigentliche Grund zu beten liegt jedoch in der Tatsache, dass Gott dies vorgeschrieben hat. Deshalb muss auch dann gebetet werden, wenn es keine Zeitspannen gibt, die uns sozusagen zum Beten bewegen, und zwar zu den Zeiten, die in den nächstgelegenen Regionen verfügbar sind. Die Methode der Schlussfolgerung konnte also auch hier bei der Frage danach, ob und wie in den äußersten Polarregionen zu beten ist, zur Anwendung gebracht werden.


[1] Tirmidhi, Fitan, 57; Madschma az-Zawa’id, 7, 351