Firar und I'tisam (Flucht und die Suche nach Zuflucht)

Wörtlich bedeutet firar (Flucht) ,vor etwas davon rennen', in der Sprache des Sufismus bezeichnet dieser Begriff aber die Reise vom Erschaffenen zum Schöpfer, die Suche nach Zuflucht vor dem ,Schatten' im ,Original'(1). Er besagt auch, auf den ,Tropfen' zu verzichten, sich in den ,Ozean' zu stürzen, sich - unzufrieden mit dem Stückchen Glas, das die Sonne widerspiegelt - der ,Sonne' zuzuwenden, der Begrenzung des Egoismus zu entkommen und in den Strahlen der Wahrheit zu ,schmelzen'. Auch der Vers "Drum fliehet zu Allah!"(2), der auf die Reise eines Menschen in Herzen und Geist hindeutet, kann mit dem Begriff firar in Verbindung gebracht werden.

 


Je mehr sich ein Mensch von der erstickenden Atmosphäre seiner Körperlichkeit und der fleischlichen Dimension seiner Existenz entfernt, desto näher kommt er Gott und desto größer wird auch sein Selbst-respekt. Hören wir doch vom Propheten Moses, einem ergebenen Diener an der Tür zur Wahrheit, wie die Flucht zu Gott und die Zufluchtsuche bei Ihm belohnt werden: "Und ich floh von euch, da ich euch fürchtete; und es schenkte mir mein Herr Weisheit und machte mich zu einem Gesandten."(3) Der Prophet Moses macht uns darauf aufmerksam, dass der Weg zu spirituellen Freuden, zu einem Treffen mit Gott und zur Stellvertreterschaft und Nähe Gottes direkt über die Flucht führt.

 

Die Flucht einfacher Menschen besteht darin, vor den Tumulten des Lebens und der Hässlichkeit der Sünden Zuflucht bei der Vergebung und Gunst Gottes zu suchen. Sie wiederholen oder betrachten ständig die Bedeutung des Verses "Mein Herr vergib und habe Erbarmen, denn Du bist der beste der Erbarmer!"(4). Auch suchen sie mit größter Aufrichtigkeit die Zuflucht bei Gott und rufen: "Bei Dir suche ich Zuflucht vor dem Bösen, das ich begangen habe!"(5)

Die Flucht der rechtschaffenen Menschen, die sich durch ihre Frömmigkeit und Nähe zu Gott auszeichnen, besteht in der Flucht vor ihren eigenen unvoll-kommenen Qualitäten hin zu den Eigenschaften Gottes; vom Gefühl der Einsicht hin zur Wahr-nehmung tief im Herzen, von der zeremoniellen Durchführung der Pflichten der Anbetung hin zu ihren innersten Dimensionen und von fleischlichen Gelüsten hin zu spirituellen Empfindungen. Darauf wird im Vers "O Gott; mit Deiner Zustimmung suche ich Zuflucht vor Deinem Zorn und mit Deiner Vergebung vor Deiner Strafe."(6) hingewiesen.

Die Flucht der fortgeschrittensten Menschen in den Bereichen Wissen, Liebe zu Gott und Frömmigkeit ist eine Flucht von den Eigenschaften Gottes hin zum Wesen Gottes, von der Wahrheit zur Wahrheit selbst. Sie sagen: "Bei Dir suche ich Zuflucht vor Dir."(7)

Die Flucht all dieser Gruppen resultiert letztlich darin, Zuflucht und Schutz zu suchen. So wie die Bewusstheit im Moment der Flucht proportional zur spirituellen Tiefgründigkeit des Fliehenden ist, variiert auch das Ziel, das erreicht wird, je nach Grad der Bewusstheit des Zuflucht Suchenden.

Diejenigen, die sich der ersten Gruppe zurechnen lassen, finden das Wissen um Gott. Sie gedenken bei allem, was sie sehen, Gott und nennen Seinen Namen. Sie halten an ihren Wünschen fest und stellen sich Dinge vor, deren Bedeutung sie unmöglich erfassen können. Schließlich erreichen sie einen Punkt, an dem sie die Realität des Ausspruches "Wir waren nicht in der Lage, Dich so zu kennen, wie es eigentlich notwendig wäre, Du Bekannter Einer!" erfassen. Sie fühlen und rezitieren fortlaufend in Ekstase:

"Alle Wesen sind ständig auf der Suche nach
Wissen um Dich;
Diejenigen, die Dich zu beschreiben versuchen, scheitern.
Akzeptiere unsere Reue, denn wir sind nur Menschen,
Unfähig Dich so zu kennen wie es eigentlich
notwendig wäre.''

Diejenigen Menschen, die der zweiten Gruppe angehören, segeln jeden Tag von neuem in einem Ozean des Wissens um Gott und verbringen ihr Leben in sich ständig erneuernden Strahlen der Manifestationen Gottes. Trotzdem können sie die Hindernisse, die zwischen sie und die letzte Station treten, in der ihr überflutender Geist zur Ruhe kommen wird, nicht ausräumen. Mit auf die Stufen der Treppe zu den höheren Rängen gerichteten Augen fliegen sie von Rang zu Rang nach oben und zittern aus Angst vor dem Absturz.

Die Mitglieder der dritten Gruppe, die von den Bindungen des Zustands (hal: spiritueller Zustand) befreit und in Erstaunen (hayra: Erstaunen) ertrinken, sind so vom ,Wein aus der Quelle des Alles' berauscht, dass selbst die Trompeten des Israfil sie nicht aus ihrer Betäubung aufwecken können. Nur jemand, der in der Lage ist, diesen Rang zu erlangen, kann die Tiefsinnigkeit der Gedanken und Gefühle von solchen Menschen erfassen. Dschalal ad-Din ar-Rumi sagt dazu:

"Jene Illusionen sind Fallen für Heilige,
in der Realität aber
Sind sie Reflexionen derer, die mit vor Freude
strahlenden Gesichtern im Garten Gottes weilen."(8)

Mit Garten Gottes sind die Manifestationen der Einheit Gottes gemeint - die Manifestationen eines oder aller Namen(s) Gottes im ganzen Universum. Jene ,mit vor Freude strahlenden Gesichtern' kennzeichnen die Namen und Eigenschaften Gottes, die auf ein einziges Ding oder Wesen konzentriert sind. Die Bedeutung der Verse ist also folgende:

Die Fallen, in denen sich die rechtschaffenen Menschen verfangen, sind die Manifestationen der Namen und Eigenschaften Gottes. Diese Manifestationen bestehen für diejenigen, die den Wahrheiten Gottes gegenüber blind sind, aus bloßen Illusionen. Den Worten Sari Abdullah Efendis nach zu urteilen, sind die Herzen der Propheten und Heiligen Spiegel, welche die Eigenschaften und Namen Gottes widerspiegeln. Gott manifestiert Seine Namen und Eigenschaften im ganzen Universum, denn Er ist dessen Herr, Führer, Erhalter und Gebieter. Er formt aus dem ganzen Universum einen Garten mit sich permanent erneuernden Schönheiten und einem Zauber, der die Propheten und Rechtschaffenen entzückt.


[1] Im Sufismus wird die Schöpfung als ein Schatten des ursprünglichen, wahrhaft existierenden Einen Schöpfergottes betrachtet. 
[2] Der Koran,51:50.
[3] Der Koran, 26:21.
[4] Der Koran, 23:118.
[5] Tirmidhi, Dawa´at, 15; Nasa´i, Isti´adha.
[6] Muslim, Salat, 222.
[7] Muslim, Salat, 222.
[8] Mathnawi, vol.1, S.3.