Haya’ (Demut)

Im Allgemeinen trägt haya' (Demut) die Bedeutung ,Scham', ,Schüchternheit' und ,Verzicht darauf, unschickliche, anstößige Dinge auszusprechen oder zu tun'; in der sufistischen Terminologie heißt haya' ,sich aus Furcht oder Ehrfurcht vor Gott von den Dingen fern halten, die Ihm missfallen könnten'. Demut zwingt den Menschen, aufmerksamer, selbstbeherrschter und -kontrollierter, gesitteter und respektvoller gegenüber Gott, dem Allmächtigen, zu sein, sofern diese Form der Zurückhaltung Gefühlen der Schüchternheit und Demut entspringt. Besitzt ein Mensch diese Gefühle nicht oder hat sie unter dem Einfluss seiner Familie bzw. seiner Umwelt verloren, wird er es schwer haben, sie neu zu entwickeln.

Im Lichte der obigen Erläuterungen kann Demut auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden:

1) Zum einen als das angeborene oder instinktive Gefühl der Scham, das den Menschen davor bewahrt, Dinge zu tun, die für unanständig und anstößig gehalten werden.

2) Zum anderen als eine Demut, die dem Glauben entspringt; diese stellt eine wichtige tiefe Dimension des Islam dar.

Wenn das instinktive Gefühl der Scham mit der Demut, die sich aus dem Islam herleitet, einher geht, bildet diese Kombination einen Schutzwall gegen schändliche und anstößige Handlungen. Sobald man eine der beiden Arten von Demut jedoch isoliert, verliert sie einen Teil ihres Wertes oder wird ganz unwirksam. Tatsächlich kann das dem Menschen angeborene Gefühl der Scham nicht von Bestand sein, solange es nicht durch ein Wissen, das dem Glauben entstammt und im Vers Weiß er nicht, dass Allah (ihn) sieht?[1] zum Ausdruck kommt, und durch das Bewusstsein der ständigen Kontrolle durch Gott (Wahrlich, Allah wacht über euch.)[2] ergänzt wird. Diese grundlegende Beziehung zwischen Demut und Glauben betonte auch der Prophet Muhammad, der einem seiner Gefährten, welcher jemanden über das Thema Demut belehrte, entgegnete:

Lass ihn! Demut kommt von Glauben.[3]

Er sagte auch:

Der Glaube besteht aus 70 oder mehr verschiedenen Teilen. Demut ist einer davon.[4]

Aus diesen Worten des Propheten lässt sich schlussfolgern, dass sich das natürliche Schamgefühl des Menschen (ebenso wie andere Tugenden, die der Mensch von Geburt an besitzt) so weit entwickelt, wie es die Dynamik, die das Wissen um Gott im Menschen hervorbringt, erlaubt, um dann gegebenenfalls zu einer Dimension des spirituellen Lebens zu werden und den Menschen vor exzessiven Gelüsten seines fleischlichen Selbst zu bewahren. Wenn dieses Schamgefühl allerdings nicht bestärkt und durch den Glauben an Gott und das Wissen um Ihn weiter entwickelt wird, wenn es nicht durch das Bewusstsein um die ständige Kontrolle durch Gott gefestigt und stattdessen in den Abgründen sinnlicher und fleischlicher Freuden verschwendet wird, wird man bei den entsprechenden Individuen oder Gesellschaften unweigerlich Sittenlosigkeit und Perversionen feststellen können, die jeden aufrichtigen Menschen beschämen. Der Prophet sagte diesbezüglich:

Wenn du keine Demut besitzt, tue was du willst.[5]

Die Worte haya' und hayat (Leben) sind miteinander verwandt; Demut ist ein Zeichen dafür, dass das Herz lebendig ist. Die Lebendigkeit des Herzens aber beruht auf dem Glauben und dem Wissen um Gott. Wenn das Herz des Menschen nicht ständig von den ,Duschen' des Glaubens und dem Wissen um Gott verwöhnt wird, kann es unmöglich lebendig bleiben und der Demut einen angemessenen Platz einräumen.

Junayd al-Baghdadi zufolge bedeutet haya', dass sich der Mensch der materiellen wie auch der immateriellen Geschenke Gottes an ihn bewusst ist und seine eigenen Mängel und Fehler kennt.

Dhu l-Nun al-Misri behauptete, haya' setze voraus, dass der Mensch auf Grund seiner Sünden und Vergehen in seinem Herzen ein ständiges Schamgefühl verspürt und genau darauf achtet, was er tut.[6]

Ein anderer spiritueller Meister definierte haya' als ,nie vergessen, wie Gott uns behandelt' und ,ein Leben entsprechend der Erkenntnis führen, dass Gott ständig sieht, was der Mensch tut und denkt'. In seinem Buch Risala hielt al-Quschairi die Aussage Gottes fest:

O Sohn des Adam. So lange du deine Demut und dein Schamgefühl vor Mir bewahrst, lasse ich die Menschen deine Mängel vergessen.[7]

Gott sagte auch zu Jesus:

O Jesus, gib zunächst deiner eigenen Selbstsucht einen Rat, dann kannst du anderen raten. Denn sonst musst du dich vor Mir deiner selbst schämen.[8]

Demut und Scham lassen sich in unterschiedliche Klassen unterteilen:

1) die Demut oder Scham für die Schuld, die Adam an den Tag legte, bevor ihm dann vergeben wurde;

2) die Scham, die die Engel tief im Herzen für ihre Unfähigkeit, Gott die gebührende Verehrung zuteil werden zu lassen, fühlen. Diese drückt sich in ihren Worten „Ehre sei Dir! Wir sind nicht in der Lage, Dich so zu verehren, wie es Deine Verehrung erfordert! aus, obwohl sie Gott doch Tag und Nacht preisen;

3) die Scham, die Gnostiker oder Menschen, die sich durch Wissen um Gott auszeichnen, angesichts der Allmacht Gottes fühlen, obwohl sie doch im Wissen um Gott verwurzelt sind. Sie bringen ihr Schamgefühl so zum Ausdruck: „Wir sind nicht in der Lage, Dich so zu verehren, wie es Dein Wissen erfordert."

4) die Scham, die Menschen mit einer tiefen Spiritualität angesichts der Ehrfurcht vor Gott verspüren, obwohl sie sich doch nie ihren fleischlichen Gelüsten und Bestrebungen hingeben;

5) die Scham, die jene, die sich durch die größtmögliche Überzeugung von Gottes Existenz auszeichnen, auf Grund der von ihnen angenommenen Entfernung zu Gott empfinden, obwohl sie doch auch Seine grenzenlose Nähe erfahren;

6) die Scham der Untreue, die diejenigen, die Gott lieben, fühlen, da sie befürchten, Gott nicht so zu lieben, wie es Seine Liebe eigentlich erfordert;

7) die Scham, die der mangelnden Aufrichtigkeit des aufrichtigen Menschen entspringt, der nicht genau weiß, wofür er zu Gott beten muss;

8) die Scham, die jene wahrnehmen, die von Gott erhöht wurden; denn sie sind sich der Tatsache bewusst, dass sie als menschliche Wesen mit der schönsten Schöpfung bedacht worden sind, verachten sich aber trotzdem oder gerade deshalb auf Grund der scheußlichen Dinge, die sie getan zu haben glauben und die ihrer Meinung nach einem Wesen der schönsten Schöpfung unwürdig sind.

Auf der ersten Stufe der Demut sieht ein Mensch sich selbst aus dem Blickwinkel Gottes. D.h., er kontrolliert und überwacht sich mit Seinen Maßstäben. Eine solche Überwachung lässt in ihm ein Gefühl der Scham oder Demut entstehen, das ihn dazu zwingt, sowohl in Gedanken als auch in Worten extrem achtsam zu sein. Wer diese Stufe erreicht, darf in Hinblick auf seine Gefühle und Gedanken als lebendig betrachtet werden.

Die zweite Stufe der Demut geht mit dem Bewusstsein um die Nähe Gottes und mit dem Gefühl, immer in Seiner Gegenwart zu weilen, einher. Menschen, die die Bedeutung und Warnung des Koranverses Er ist mit euch, wo immer ihr (auch) sein möget.[9] ständig vor Augen haben, können die folgenden Worte des Propheten, die sich auf diese Verse beziehen, nachvollziehen:

Sei Gott, dem Allmächtigen, gegenüber so demütig, wie es Demut gegenüber Ihm erfordert. Sorge dafür, dass der, der so demütig ist, wie es die Demut Ihm gegenüber erfordert, seinen Verstand mit dem, was er beinhaltet, und seinen Magen mit dem, was sich in ihm befindet, stets unter Kontrolle behält. Sorge dafür, dass er sich immer an den Tod und den anschließenden Verfall erinnert. Jemand, der sich ein Leben nach dem Tode wünscht, wird auf den Schmuck der Welt verzichten. Und wem dies gelingt, der kann so viel Demut gegenüber Gott aufbringen, wie die Demut Ihm gegenüber erfordert.[10]

Die dritte Stufe der Demut kann der Mensch erklimmen, indem er die absolute Verfügungsgewalt Gottes über alle Dinge wahrnimmt und ein Leben in fest verwurzelter Spiritualität führt, um schließlich die endgültige Bestimmung zu erfahren, die im folgenden Koranvers beschrieben ist:

Und (es steht geschrieben,) dass es bei deinem Herrn enden wird.[11]

Die Bemühungen auf dem Weg zu Gott, die auf dieses endgültige Ziel hin ausgerichtet sind, nehmen im irdischen Leben kein Ende.

Der Grad der Menschlichkeit eines Menschen entspricht dem Grad seiner Demut. Gelingt es dem Reisenden auf dem Weg zu Gott nicht, sein Leben zu ordnen, seine Taten entsprechend den Erfordernissen des ewigen Lebens zu disziplinieren und in äußerster Bescheidenheit und Demut zu leben, wird sein Leben für ihn selbst zu einer Schande und für andere zu einer Last. Dies kommt im nachstehenden Vers eines anonymen Dichters zum Ausdruck:

„Bei Gott, weder im Leben gibt es Gutes
Noch in der Welt, wenn die Demut verschwindet."

Die Demut ist eine Eigenschaft und ein Geheimnis Gottes. Wüssten die Menschen, auf wen sich die Demut eigentlich bezieht, würden sie sich achtsamer und aufmerksamer verhalten. Um dies zu verdeutlichen, erzählt man sich Folgendes:

„Gott, der Allmächtige, fragt einen alten Mann auf dem Feld der Auferstehung, als Er ihn für seine Taten in der Welt zur Rechenschaft ziehen will: Warum hast du diese und jene Sünden begangen? Der alte Mann aber streitet ab, die Sünden begangen zu haben. Daraufhin befiehlt der Barmherzige den Engeln: Bringt ihn also ins Paradies! Die Engel möchten wissen, warum der Allmächtige Ihnen so befiehlt, wo Er doch weiß, dass der alte Mann sich dieser Sünden schuldig gemacht hat. Also antwortet Gott ihnen: Ich weiß, aber Ich sah seinen weißen Bart, der erkennen ließ, dass er zur Gemeinschaft Muhammads gehörte; Ich schämte mich, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er lügt."

Im Buch Kanz al-Ummal wird berichtet, dass sich die Augen des Gesandten Gottes, als der Erzengel Gabriel ihm dies verkündete, mit Tränen füllten und er voller Bedauern sagte:

Gott, der Allmächtige, fühlt sich beschämt, diejenigen aus meiner Gemeinde zu bestrafen, deren Bart weiß geworden ist, während sich diejenigen aus meiner Gemeinde, die einen weißen Bart tragen, nicht dafür schämen, Sünden zu begehen.[12]

Um es auf einen Nenner zu bringen:

Einer der Namen Gottes lautet Hayiy, der Demütige,
Also bemühe dich, und erwirb dir Demut.


[1] 96:14
[2] 4:1
[3] Bukhari, Iman, 16; Muslim, Iman, 59; Abu Dawud, Adab, 6
[4] Abu Dawud, Sunna, 14; Nasa'i, Iman, 16
[5] Bukhari, Anbiya', 54; Abu Dawud, Adab, 6; Ibn Madscha, Zuhd, 17
[6] Quschairi, ar-Risala, 215
[7] Quschairi, ar-Risala, 216
[8] Quschairi, ar-Risala, 216
[9] 57:4
[10] Musnad, 1.387
[11] 53:42
[12] Kanz al-Ummal, Vol. 15, Hadith Nr. 42680"

 

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