Lässt sich der Aufstieg von Hizmet in der Türkei auf die Politik der ökonomischen und politischen Liberalisierung von Ministerpräsident Turgut Özal (1983-93) zurückführen?
Nein, sicherlich nicht. Für die Entstehung und den Aufstieg von Bewegungen ist stets eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich, nicht nur ein einziger Faktor. Der Existenz jeder Bewegung liegt eine einzigartige Kombination aus verschiedenen Faktoren zugrunde, die ein unterschiedlich starkes Gewicht besitzen: historischer Kontext, Missstände, Wirtschaft, Normen, Schichtzugehörigkeiten, Glaubensvorstellungen, Ressourcen, Netzwerke, Strategien, Ideologie, Organisationen, Herrschaft, Opposition etc.
Deutungsansätze, die sich auf ein einziges Ereignis oder auf einige wenige Ereignisse fokussieren, können durchaus das ein oder andere Körnchen Wahrheit enthalten; der Realität und Bedeutung von Hizmet werden sie aber nicht gerecht. Zum Beispiel ist es bestenfalls ein winziger Teil der Wahrheit, wenn behauptet wird, dass die Bewegung ihren Aufstieg der Landflucht in die Städte, der Industrialisierung und der Modernisierung in der Türkei während der Özal-Dekade verdankt. Diese Erklärung ist unzureichend, weil sie wichtige Aspekte der Bewegung und ihrer Geschichte unberücksichtigt lässt.
Tatsächlich entstammte Özal selbst einer Glaubensgemeinschaft. Er war gebildet und qualifiziert und besaß in der türkischen Gesellschaft und im Staatssystem Rang und Namen. Aber schon damals gab es staatliche Organe, die keiner Kontrolle unterlagen und ein Eigenleben führten. Mit seinen Äußerungen, Plänen und Maßnahmen stieß Özal seinerzeit auf großen protektionistischen Widerstand. Eine einzelne Person wie er hätte durch ihren Aufstieg niemals in so kurzer Zeit eine so große Zahl von gebildeten und qualifizierten Menschen, geschweige denn eine Bewegung wie Hizmet hervorbringen können. Die Wahrheit ist, dass die vom Glauben inspirierten Gemeinschaften bereits damit begonnen hatten, Kommunikationsnetze und Medien aller Art für sich zu nutzen. Als Unternehmer, die nicht auf staatliche Subventionen angewiesen waren, hatten sie außerdem schon bewiesen, dass sie in Exportindustrien erfolgreich waren und Deviseneinnahmen erzielen konnten.
Soziale Bewegungen brauchen Zeit, um sich zu entwickeln; sie entstehen nicht als fertige Gebilde. Die Existenz politischer Spielräume führt nicht automatisch und aus dem Stehgreif zu verstärkten gesellschaftlichen Aktivitäten; sie allein liefert keine hinreichende Erklärung dafür, dass sich das kollektive Handeln als neuer Akteur etablieren konnte.
Ein so breit angelegtes, durchorganisiertes kollektives Handeln wie im Falle von Hizmet kann sich nur dann entfalten, wenn bereits eine Basis von Menschen vorhanden ist, die die erforderlichen intellektuellen und beruflichen Fähigkeiten sowie die nötige Bereitschaft und Entschlossenheit mitbringen; nur dann kann sich ein Chancen-Fenster in der Geschichte öffnen.
Es ist keineswegs die Regel, dass politische oder soziale Spannungen oder Bedingungen kollektive Akteure oder kollektives Handeln (soziale Bewegungen oder politische Parteien) hervorbringen. Ob dies geschieht oder nicht, ist von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig, zum Beispiel von der Verfügbarkeit adäquater organisatorischer Ressourcen, vom Talent der Wortführer solcher Bewegungen, ihr Weltbild der Öffentlichkeit und den Menschen ansprechend zu präsentieren, und von einem politischen Kontext, der Handlungsspielräume eröffnet.
Wer also behauptet, Hizmet sei ein Produkt der Politik von Turgut Özal oder irgendeines anderen Ereignisses, der ignoriert die Tatsache, dass informelle Netzwerke und Solidaritätskreise im Alltagsleben zu jener Zeit bereits existierten. Schon damals gab es einflussreiche Netzwerke mit großer Reichweite und vielen Mitgliedern, und schon damals hatten Individuen und Gruppen viele Erfahrungen im gemeinsamen Leben und Arbeiten gesammelt. Die Bewegung verfügte also bereits über Ressourcen, die sie mobilisieren konnte. Und diese Ressourcen warteten nur darauf, auf neue Ziele ausgerichtet zu werden. Hätten sie nicht bereits existiert, so hätte die allgemeine Lage sie nicht hervorbringen können; die Bewegung wiederum hätte nicht davon profitieren können, dass die allgemeine Lage ihr eine neue Richtung vorgab.
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