Ein moderner Osmane

Ist es möglich, ein wahrer religiöser Gläubiger zu sein und gleichzeitig gute Beziehungen zu Anhängern anderer Glaubensrichtungen und sogar zu Atheisten zu unterhalten? Ist man als wahrer Gläubiger offen für neue Ideen und Denkansätze?

Fethullah Gülen, ein 67-jähriger türkischer Sufigelehrter, Autor und Theoretiker, hat einen Großteil seines Lebens dem Bemühen gewidmet, dass diese Frage bejaht werden darf. Vom Krankenbett in seinem Exil in der Nähe von Philadelphia, USA, aus führt er eine globale Bewegung, die von Sufiidealen inspiriert ist. Er steht für ein offenes islamisches Denken ein und ist - ebenso wie die im Iran geborenen islamischen Philosophen Seyyed Hossein Nasr und Abdolkarim Soroush - ein Verfechter der modernen Wissenschaft. Als solcher publiziert er ein in englischer Sprache erscheinendes Wissenschaftsmagazin namens The Fountain. Aber im Gegensatz zu diesen im Westen ausgebildeten Iranern hat er den größten Teil seines Lebens in religiösen und politischen Institutionen der Türkei verbracht, in einem muslimischen Land also, das seit der Republikgründung nach dem 1. Weltkrieg durch Mustafa Kemal Atatürk auch ein säkulares Land ist.

Er und seine Bewegung bedienen sich, was ungewöhnlich für einen frommen Intellektuellen ist, moderner Technologie. Sie kennen sich aus mit den Märkten und länderübergreifendem Business, vor allem aber mit modernen Kommunikationsstilen und aktiver Öffentlichkeitsarbeit, die dazu genutzt werden, um neue Anhänger zu rekrutieren. Gülen arrangiert sein öffentliches Auftreten wie ein westlicher Prominenter - auch er gibt nur solchen Fragestellern Interviews, denen er vertrauen kann.

Viele seiner Anhänger stammen aus der aufstrebenden türkischen Mittelschicht. Weil die religiöse Freiheit nur schleppend in der Türkei Einzug hält, versichert Gülen seinen Anhängern, dass sich die staatlich-nationalistischen Richtlinien der Republik Atatürks durchaus mit einem traditionellen, aber flexiblen islamischen Glauben kombinieren lassen. Außerdem versöhnt er die Mittelschicht aus der Provinz mit den osmanischen Traditionen, die von Atatürk und seinen ‚kemalistischen‘ Erben als theokratisch diskreditiert worden waren. Oliver Leaman, ein führender Gelehrter für islamische Philosophie, beschreibt Gülens Ideen als ein Produkt der türkischen Geschichte, insbesondere des Endes des Osmanischen Reichs und der Gründung der Republik. Er nennt Gülens Ansatz ‚Islam-light‘.

Millionen von Menschen innerhalb und außerhalb der Türkei ließen sich bereits von Gülens über 60 Büchern, Tapes und Videomitschnitten seiner Ansprachen inspirieren. Warum? Dahinter steckt wohl eine Kombination aus Charisma, guter Organisation und attraktiver Botschaft. Gülen bekräftigt, dass man sich in der modernen Welt zuhause fühlen und gleichzeitig traditionelle Werte wie den Glauben an Gott und die Verantwortung der Gemeinschaft hochhalten darf - eine Botschaft, die in der Türkei großen Widerhall findet.

Gülen besteht darauf, kein Sufimeister zu sein, aber sein Denken ist zweifellos von Sufiidealen beeinflusst. Zum Beispiel sagt er, dass jemand, der den Koran wirklich verstehen möchte, ihn nicht nur mit dem Verstand sondern auch mit dem Herzen durchdringen muss. Auch seine Überzeugung, dass Gott, die Menschheit und die Natur miteinander verknüpft und gewissermaßen Bestandteile einer einzigen Einheit sind, einer Art kosmischer Trinität, findet sich im Sufismus wieder. Aus diesem Konzept ergeben sich praktische Konsequenzen, zum Beispiel, dass ein wahrer Gläubiger die Menschheit und die Natur genauso liebt, wie er Gott liebt, und dass niemand als Außenseiter betrachtet werden darf. Deshalb besteht Gülen darauf, dass zwischen den Menschen aller Konfessionen und auch den Atheisten ein Band der Freundschaft gespannt werden soll.

Hakan Yavuz, Mitherausgeber des Buches Turkish Islam and the Secular State: The Gülen Movement, beschreibt die Gülen-Bewegung als ein Netzwerk aus vielleicht 5 Millionen gleichgesinnten Freiwilligen und Sympathisanten mit einem kleinen inneren Kern, und nicht so sehr als eine Organisation, die über eine feste Hierarchie oder eine formelle Mitgliedschaft verfügt. Andere hingegen sprechen von einem Kult, in dem keine Abweichung von Gülens Wort geduldet wird. Die schiere Größe des Netzwerks hat dazu geführt, dass die Bewegung inzwischen Zeitungen und Zeitschriften herausgibt sowie TV-Kanäle, Radiostationen, private Krankenhäuser und wohl über 500 Eliteschulen in Dutzenden von Ländern unterhält. Die meisten dieser Schulen gibt es in der Türkei und in türkischsprachigen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, einige jedoch auch in Afrika, China und den USA.

Die Gülen-Bewegung sponsert internationale Konferenzen, auf denen Gülens Gedanken diskutiert werden: der Versuch, Wissenschaft und Religion miteinander zu vermählen, sein umfangreiches Werk zur Interpretation des Islams für die Moderne und seine Rolle in der türkischen Politik, d.h. sein Einfluss auf die herrschende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Die letzte Veranstaltung dieser Art fand im ‚House of Lords‘ in Großbritannien statt.

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Fethullah Gülen wurde 1941 in Ostanatolien geboren, in einem Dorf nahe Erzurum an der türkischen Grenze zu Iran und Armenien. Nach seiner islamischen Ausbildung arbeitete er ab 1959 als Imam für das Ministerium für religiöse Angelegenheiten. (Imame sind in der Türkei öffentliche Bedienstete). Diese Tätigkeit übte er bis 1981 aus. Kurz nach dem Militärputsch kündigte er aus eigener Initiative. Wer einmal eine Rede von Gülen gehört hat, weiß, dass er sein Publikum oft zu Tränen rührt. Das Leben als Imam in Regierungsdiensten wird jemanden mit seiner Kreativität und seinem Charisma kaum ausgefüllt haben; 20 Jahre jedenfalls haben ihm offenbar genügt.

Noch als Imam hatte sich Gülen der Nur-Bewegung angeschlossen, einem sufistisch inspirierten Netzwerk von Anhängern des 1960 verstorbenen türkischen Denkers Said Nursi. Obwohl Gülen später mit dieser Bewegung brach, blieb er Nursis Gedanken zur Anpassung des Islams an die Moderne und zu einem Gleichgewicht zwischen wissenschaftlicher Vernunft und religiöser Offenbarung auch weiterhin treu.

Wissenschaft und Technologie sind aus zwei Gründen wichtig für Gülen. Erstens führt er die Unterentwicklung vieler muslimischer Länder auf eine Vernachlässigung des modernen Wissensschatzes zurück. Für Gülen bedeutet dies eine Missachtung der islamischen Pflicht zu lernen, auf die der Koran so großen Wert legt. Umstrittener hingegen ist seine Meinung, dass es keinen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung geben kann und dass die Wissenschaft als Instrument betrachtet werden sollte, um das Wunder des Korans zu ergründen.

Gülen mag sich nicht der Ansicht mancher Muslime anschließen, die glauben, dass der Koran alles enthält, was für ein wissenschaftliches Verständnis vonnöten ist. Er weiß, dass wissenschaftliche Entdeckungen zumeist vorläufiger Natur sind und dass die Wissenschaft Schritt um Schritt immer neue Erkenntnisse anhäuft. Gleichzeitig glaubt er aber auch, dass die Wissenschaftler, je weiter sie ihr Wissen beispielsweise auf dem Feld der Physik oder der Biologie vervollständigen, den offenbarten Wahrheiten des Korans immer näher kommen. Ein Pendant zu seinem Ansatz im Westen ist die Templeton-Stiftung, die Wissenschaftlern mit Sympathien für die Religion Stipendien und Preise verleiht.

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Der Sufismus ist ein fester Bestandteil der osmanischen wie auch der islamischen Geschichte, und trotz aller Versuche, ihn zu unterdrücken, ist er in vielen muslimischen Ländern populär und einflussreich geblieben. In seinem traditionellen Sinne zeichnet er sich durch eine Meister-Schüler-Verbindung aus, wobei der Sufimeister über eine Kette von lebenden und toten Sufimeistern mit dem Propheten Muhammad verbunden ist. Heute hingegen sind Sufimeister in erster Linie Mentoren, und das gilt vor allem im Westen.

Zwei führende türkische Sufinetzwerke sind die Mevlevis und die Naqschbandis. Die Mevlevis gehen auf das 13. Jahrhundert und den persischen Dichter Dschalal ad-Din Rumi zurück. Sie sind berühmt für ihren Wirbeltanz der Derwische. Der Naqschbandi-Orden wurde 1389 in Zentralasien gegründet. Er hat sich die alte hierarchische Struktur des Sufismus bewahrt, verficht aber eine eher orthodoxe Ausprägung des Islams. In den letzten Jahren des Osmanischen Reichs waren die Naqschbandis der verbreitetste Sufiorden. Viele Mitglieder der Regierungspartei AKP sind Mitglieder dieses Ordens. Andere wiederum schätzen eher Gülen als die Naqschbandis.

Gülen hat nie aktiv in die türkische Politik eingegriffen, und er hat den politischen Islam stets verurteilt. Religion bedeutet für ihn persönliche Frömmigkeit, und nicht politische Ideologie. Er war ein scharfer Kritiker von Necmettin Erbakan, dem Führer der Wohlfahrtspartei (Vorläuferin der AKP), der in den späten 1990er Jahren kurzzeitig eine Koalitionsregierung mit der konservativen Wahrheitspartei anführte. Gülen stellte sich sogar hinter den ‚weichen Putsch‘ des Militärs vom 28. Februar 1997, der Erbakan zum Rücktritt zwang.

Nach den von Spannungen gezeichneten Jahrzehnten der 80er und 90er Jahre liegen Gülen und die AKP-Führer heute näher beieinander, obwohl sie unterschiedliche soziale Fundamente haben: Die Basis der AKP liegt in der städtischen Unterschicht, die Gülens in der ländlichen Mittelschicht. Von Gülen ermuntert, hat die AKP die wörtliche Auslegung des Korans aufgegeben, sich die Idee der Menschenrechte zu eigen gemacht und sämtliche Träume von einer Einführung der Scharia oder einer Wiedererrichtung des osmanischen Kalifats aufgegeben. Die Absage der AKP an den Islamismus wiederum hat Gülen dazu veranlasst, das türkische Militär stärker zu kritisieren. Gülens Medienorgane, allen voran die Tageszeitung Zaman, unterstützen die AKP-Regierung.

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Und die Regierung benötigt jede Unterstützung, die sie bekommen kann. Denn obwohl sie bei der Wahl im vergangenen Jahr einen Erdrutschsieg feiern konnte, kämpfen Premierminister Recep Tayyip Erdogan, Präsident Abdullah Gül und viele andere AKP-Parlamentarier um ihr politisches Überleben. Ihr Gegner sind die Kemalisten, und gerungen wird unter anderem um das Tragen von Kopftüchern an Universitäten.

Ca. 32 Prozent der türkischen Jungen und 43 Prozent der Mädchen besuchen nur die Grundschule. Umfragen weisen darauf hin, dass 5 von 10 Frauen ihr Haar bedecken, und die Regierung geht davon aus, dass Mädchen durch das Verbot, einen Hidschab zu tragen, davon abgehalten werden, ihre Schullaufbahn fortzusetzen. Im Februar entschied das Parlament deshalb mit großer Mehrheit, die Verfassung zu ändern und das seit 1989 bestehende Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben. Am 5. Juni jedoch wurde die Entscheidung vom türkischen Verfassungsgericht annulliert. (Was Kopfbedeckungen betrifft, hat die Türkei ohnehin hat eine lange Tradition: Der Turban wurde 1829 geächtet und durch den Fez ersetzt, der seinerseits dann 1925 von Atatürk verboten wurde.)

Ein anderes Thema, jedoch eng damit verbunden, ist die Entscheidung des Verfassungsgerichts, einen Antrag des Generalstaatsanwalts auf Verbot der AKP zu verhandeln, weil Parteimitglieder angeblich die verfassungsmäßigen Prinzipien des Säkularismus verletzt haben. Der Fall könnte sich über 8 Monate hinziehen, und in dieser Zeit wird das ohnehin schleppend verlaufende Verfahren zum EU-Beitritt des Landes wohl völlig zum Stillstand kommen.

Auch das Verbot politischer Parteien ist nichts Neues in der Türkei: Schon 26 von ihnen wurden seit 1960 aufgelöst. Die AKP ist aus dem Nachlass der Tugendpartei (verboten 2001) hervorgegangen, die ihrerseits von früheren Mitgliedern der Wohlfahrtspartei (verboten 1998) gegründet worden war. Um einer dritten Neugründung dieser Art zuvorzukommen, pocht der Generalstaatsanwalt nun darauf, dass jedes AKP-Mitglied, das für schuldig befunden wird, für 5 Jahre aus der Politik verbannt wird. Sollte er sich durchsetzen, dürften der Türkei Jahre politischer Instabilität ins Haus stehen.

Viele Kemalisten betrachten die Aufhebung des Kopftuchverbots als den ersten Schritt in Richtung einer Revolution nach iranischem Vorbild. „Khomeini lebt, in Ankara geht es ihm gut, und er wird von der Europäischen Union unterstützt“, erzählte mir ein ranghohes Mitglied der nationalistischen Republikanischen Partei. (Und Michael Rubi, ein führender amerikanischer Neokonservativer, prophezeite, dass falls die politischen Spannungen in der Türkei ein unerträgliches Maß erreichen sollten, Gülen eine triumphale Rückkehr ins Land feiern wird. Ähnlich wie damals Khomeini werde er dann eine islamische Revolution herbeiführen.

Gülen selbst hingegen ist in der Kopftuchfrage durchaus zu Kompromissen bereit. Und abseits der politischen Zirkel von Ankara genießt das Thema keineswegs Priorität. Eine Umfrage von 2006 ergab, dass in jenem Jahr prozentual weniger Frauen ein Kopftuch trugen als noch 1999. Und nur 3,7 Prozent der Befragten gaben an, die Kopftuchfrage sei eines der drängendsten Probleme des Landes.

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Die AKP ist eine komplexe Organisation, die sich auf ein Netz von Denkern und Denkfabriken stützen kann: zum Beispiel auf Männer wie Ibrahim Kalin, Philosoph der Wissenschaft und Leiter des ‚SETA-Think Tanks‘, oder auf Ahmet Davutoglu, ehemaliger Professor für internationale Beziehungen und heute Erdogan’s Chefstratege für die Außenpolitik.

Führende Politiker der AKP und auch Gülen haben sich sehr für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei eingesetzt, nicht zuletzt auch, um die religiöse Freiheit zu stärken. (Die Kemalisten befürworten eine solche Mitgliedschaft ebenfalls, allerdings aus entgegengesetzten Motiven - nämlich um die religiösen Parteien zu bremsen.) Doch nun, da sich die Aussichten der Türkei verschlechtern, spielen einige AKP-Denker die ökonomischen Vorteile einer Mitgliedschaft herunter, und Davutoglu betont zunehmend die globale Rolle der Türkei, anstatt die europäische.

Selbst wenn die EU-Begeisterung innerhalb der Türkei zurückkehren würde, dürfte Brüssel auch weiterhin erhebliche Zweifel an den politischen Normen des Landes hegen: etwa an der ständigen Einmischung des Militärs in die Politik oder am Status der Minderheitenrechte - ein Problem, das nur sehr zögerlich angegangen wird. Bislang hat die Republik auf der Basis funktioniert, dass alle Türken türkisch sprechende sunnitische Muslime sind. Alle anderen Ausdrucksformen von Glauben, Sprache und Kultur wurden unterdrückt. Auch die AKP, die doch so gern mehr religiöse Freiheiten besäße, ist nicht gerade offensiv für die Rechte der türkischen Kurden und der Alewiten eingetreten.

Gülen hat die Regierung und ihre Staatsorgane einschließlich des Nationalen Sicherheitsrats immer öffentlich unterstützt. Er selbst besaß die Rückendeckung zweier früherer Präsidenten. Sowohl der Mitte-Rechts Präsident Süleyman Demirel als auch Präsident Bülent Ecevit, der Held der türkischen Linken in den 1970er Jahren, vertrauten ihm -ganz im Gegensatz zu vielen Kemalisten, die sich durch seine Unterstützung für die AKP-Regierung in ihrem Verdacht bestätigt sehen, dass Gülen das trojanische Pferd des politischen Islams ist. Auch Gülen selbst stand bereits aufgrund vermeintlicher antisäkularer Umtriebe vor Gericht, wurde 2006 aber von allen Vorwürfen freigesprochen.

Die vergangenen Jahre hat Gülen im selbst gewählten Exil in den USA verbracht. Gesundheitlich geht es ihm nicht gut. Gerüchte besagen, dass er trotzdem bereit sei, in die Türkei zurückzukehren. In der gegenwärtigen Lage, wo politische Verbote drohen, erscheint dies jedoch unwahrscheinlich. Stattdessen hat Gülen die Zeit genutzt, um seine Basis in Übersee und sein Netzwerk von Schulen zu stärken (eine neue wurde erst kürzlich in Pakistan eröffnet).

Traditionelle Sufimeister ernennen einen Nachfolger, bevor sie sterben. Gülen hat nichts dergleichen getan. Vielleicht weil dies auch gar nicht nötig ist. Seine Ideen werden in seinen Büchern, DVDs, in MP3-Aufnahmen und auf Webseiten in 21 Sprachen weiterleben. Unabhängig davon, ob Gülen in seine Heimat zurückkehrt oder nicht, ist sein Vermächtnis als durch und durch moderner Sufi gesichert.

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