Die anatolische Versuchung
Um die Zukunft der Türkei findet ein erbitterter Kulturkampf statt: Die alte kemalistische Staatselite gegen die wirtschaftlich erfolgreichen Aufsteiger. Sie sind EU-freundlich und zugleich konservativ-islamisch – die Basis der Regierung Erdogan. Begegnungen in Istanbul und in der aufstrebenden Provinz.
Da steht sie, die neue Türkei. Ihr Kopftuch – Seidenchiffon in gedämpftem Violett. Kristallweiße Bluse, schwarzer, seitlich geschlitzter Rock. High Heels. Die Handtasche: schwarzer Kunststoff mit violettem Zierrat. »Alles muss ineinanderfließen«, sagt die Chefdesignerin von Tekbir und zupft das Kopftuch an ihrem Model zurecht. »Hoşgeldiniz!« – Willkommen bei Tekbir, dem Couturier des Propheten.
Aus der Istanbuler Schneiderei kommt auch der weiße Hosenanzug dort, dazu ein leuchtend gelb gemustertes Kopftuch, »die Akzentfarbe dieses Sommers«, erklärt die Designerin, die häufig in Mailand und Paris unterwegs ist. Kopftuch und Karriere heißt das Buch, das auf dem Schreibtisch ihres Chefs liegt. »Wer modisch ist und gläubig und erfolgreich, kauft bei uns«, sagt Mustafa Karaduman. Tekbir ist die größte Kopftuchfabrik der Türkei. »Ich habe einen Traum«, sagt Karaduman. »Ich wünschte mir, alle Frauen der Türkei würden sich mit unseren Kopftüchern schmücken – nicht aus Zwang, sondern weil sie es schön finden.«
Säkulare Türken fühlen sich von solchen Sprüchen bedroht. Ist der Mann Unternehmer oder Fundamentalist? »Wer Kopftuch trägt, will die islamische Republik!«, das ist der brennende Verdacht. Ayşe Böhürler, Journalistin, Frauenforscherin und Mitbegründerin der konservativen türkischen Regierungspartei AKP, muss damit leben. Sie trägt ihr Kopftuch aus Überzeugung. Es ist sandfarben, oft klebt das Mobiltelefon daran. Sie löst die Augen kaum vom Laptop, während sie spricht. »Das Kopftuch verdeckt in der Türkei oft den gewaltigen Wandel, den die Frauen vollzogen haben«, sagt sie.
Ihre Mutter habe sich noch aus Tradition bedeckt. »Ich trage es, weil es meine persönliche Entscheidung ist. Ich sehe es als ein Element meiner Religiosität. Und als Revolte gegen den Zwang eines von oben verordneten türkisch-nationalen Stils.« Wie gläubig darf ein Türke sein in der laizistischen Republik des Staatsgründers Atatürk? Das, sagt Ayşe Böhürler, sei die Frage der Zukunft. »Religiöse Türken bleiben ihren Werten treu und sind dabei sehr aufgeklärte, moderne und demokratisch denkende Menschen.«
Zweimal Selbstbewusstsein pur, zweimal die neue Türkei. Die westlichen Vorurteile, die alten orientalischen Schwarz-Weiß-Bilder zerbrechen. Hier lugt unter dem Kopftuch nicht das entrechtete, geknechtete, verdroschene Mütterchen hervor. Nicht die fromme Schwester, die von Brüdern und Onkeln vor der Welt beschützt werden muss. Die Türkei hält eine neue Botschaft bereit. Die gläubigen Türken begehren, nicht als rückständig abgestempelt zu werden. Mehr noch, sie finden sich viel fortschrittlicher als jene radikalsäkulare Klasse von Offizieren, Richtern, Beamten, die Atatürks Land seit 1923 von Ankara aus erzieht.
Gläubige Türken stellen die Alleinherrschaft dieser Klasse infrage und rufen: Islam und Moderne, das passt zusammen! Mit dieser Losung ziehen sie von Anatolien in die Metropole Istanbul, mit ihr erobern sie von der Provinz her die Hauptstadt Ankara. Einige von ihnen sitzen in der konservativen AKP-Regierung von Premierminister Tayyip Erdoğan. Das Ziel – eine reformierte Türkei.
Aber was für eine?
Der böse Verdacht der alten Türkei: Die Religiösen tragen das Kopftuch, um die säkulare Republik zu stürzen, sie haben den geheimen Plan, einen zweiten Iran zu schaffen, sie tun nur so modern und wollen in Wahrheit die Scharia. So reden die Gegner und blasen zum Angriff. Das höchste Gericht der Türkei prüft eine Klage, Partei und Regierung Erdoğans zu verbieten. Angeblich wegen antisäkularer Umtriebe. Doch hinter der dünnen Klageschrift und dem politischen Verfahren steht kein juristisches Motiv. Treibmittel ist die nackte Angst vor der wachsenden Stärke der gläubigen Türken. Ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft, jeder verdächtigt jeden. Der Kampf um die Zukunft des Landes ist voll entbrannt.
Wer sind die gläubigen Türken, die Mitsprache und Macht im säkularen System fordern? Wie wollen sie die Türkei verändern? Woher nehmen sie ihr Selbstbewusstsein, ihre Kraft?
Im Anfang war Anatolien, das türkische Herzland. Kayseri ist die Mitte der Mitte Anatoliens, eine Stadt der gläubigen Muslime. In der staubigen Ebene am Fuß des Erciyesberges gründeten die Seldschuken den ersten Turkstaat. Heute beherrschen Händler die Stadt. Basare in Kayseri werben sonst für Schuhe und Rinderschinken. Einer hat am Eingang ein Plakat mit dem Bild des Staatspräsidenten Abdullah Gül von der AKP aufgehängt. »Wir sind stolz auf dich!«, steht darunter. Gül, im vorigen Jahr gegen den bitteren Widerstand des radikalsäkularen Establishments ins Amt gewählt, kommt von hier.
In Kayseri lässt sich lesen wie in einem offenen Buch über die Türkei. Hier der Präsident, da die von Jahrhunderten geschwärzten Schulmauern der Sahabiye Medrese und der alten Festung. Doch sonst ist nicht viel von der Geschichte geblieben. Kayseri hebt ab in die Zukunft. Bagger pflügen alte Wohngebiete unter. Der neue Busbahnhof, ein Experiment aus Glas, Kunststoff und geweißtem Beton, sieht aus, als solle hier demnächst das Space Shuttle landen. Am Bahnhof vorbei geht es ins riesige Industriegebiet, wo 2004 an nur einem Tag 139 neue Betriebe gegründet wurden. Plakate werben dafür, mehr Cola Turka zu trinken und mehr türkische Traktoren zu fahren.
Saffet Arslan raucht eine Davidoff an seinem aufgeräumten Schreibtisch. Der Besitzer von Ipek, einer der großen türkischen Möbelfabriken, ist eine anatolische Vaterfigur – große schwarze Brauen, silbergraues Haar, ein wohlgezähmter Schnauzbart, goldene Lesebrille. Er hat zwei Leidenschaften: Die eine gilt dem Sammeln von tesbih, Gebetsketten, die andere gilt der Ausweitung des Geschäfts. Gerade erschließt er Iran und die Golfstaaten als Markt. »Ich freue mich über die Öffnung der Türkei unter dieser Regierung.«
Die vom staatsgläubigen Establishment in Ankara verdammte Globalisierung hält Arslan für eine feine Sache. »Wir müssen uns dafür rüsten, unsere Banken neu organisieren und den Staat von überflüssiger Verantwortung befreien.« Kredite und Steuernachlässe, wie sie der türkische Staat vor Erdoğans Machtantritt gern an notleidende Kombinate verteilt hat, hält er für eine Krankheit. »Die verprassen nur das Geld und sind am Ende doch nicht wettbewerbsfähig.«
Arslan hat sich in seinem Leben stets selbst subventioniert. Sein Vater war ein einfacher Teppichknüpfer. Die Eltern schickten ihn nach der Grundschule zum Arbeiten. Als 14-Jähriger schon schuftete er als Schreiner in einer Möbelwerkstatt. »Sofas und Stühle habe ich gezimmert, Sessel bespannt, dass keine Falte blieb.« Er zeigt ein altes Foto von einem kleinen Möbelladen. Daraus wurden zwei, dann fünf Läden, 1991 gründete er seine Firma Ipek. »Damals kauften die Leute Seidenmöbel wie verrückt, die Fabrik expandierte schnell.« Dann beglückte Ipek die Türken mit Klappbetten. Arslan kaufte Land, auf dem eine Zinkfabrik stand, die ihm heute auch gehört. Im Zentrum von Kayseri betreibt er eine Einkaufspassage. Ist der 51-Jährige nun wertfreier Großkapitalist oder gläubiger muslimischer Unternehmer?
»Der Islam sagt uns, dass der Profit gerecht sein muss: Arbeite hart, übervorteile andere nicht, hilf denen, die in Not sind«, sagt Arslan. Wem hilft er? »Ich finanziere eine Schule, ein Sportzentrum, wir geben Studenten Stipendien.« Die Erciyes-Universität in Kayseri wird von vielen Unternehmern unterstützt, Fakultäten und Schulen tragen die Namen von Stiftern. Das stehe nicht im Koran, sondern sei einfach Ausdruck der Kultur dieser Stadt, sagt Arslan stolz. »Wenn man hart arbeitet, tut man seine Pflicht und bringt Gott zum Lächeln.« Darum habe Kayseri nur wenige Restaurants und kaum Bars, wo man ja eh nur Zeit verschwende.
Verpflichtet Gott den Gläubigen nicht auch, nach Mekka zu fahren und fünfmal am Tag zu beten? Nun ja, auf dem Hadsch war Arslan schon, zum Beten reicht die Zeit nicht ganz. Aber seine Arbeiter dürfen während der Mittagspause in der Werksmoschee beten. Und freitags fahren sie kollektiv in die neue große Moschee, die mit dem Bus in fünf Minuten zu erreichen ist.
Das Gotteshaus erinnert an die großen Istanbuler Baudenkmäler aus dem 16. Jahrhundert. Ein prächtiger Innenhof, eine Kuppel von 35 Metern Durchmesser, Marmorgalerien, Edelsteinsäulen und Goldlüster. Hier passen locker einige Tausend Gläubige hinein, unten die Männer, oben die Frauen mit Kopftuch. Kein Sultan hat sie erbaut, kein staatliches Religionsamt: Die Unternehmer von Kayseri haben sie errichten lassen. Daher auch der schöne Name: »Zentralmoschee der organisierten Industriezone«. Sie überragt ein benachbartes Kraftwerk mit chromblitzenden Wärmerohren, das die Fabriken von Kayseri ebenso versorgt wie die Fußbodenheizung des betonfrischen Gotteshauses.
Die Männer an den Nähmaschinen grüßen höflich ihre Chefin
Diese Mischung aus Hightech und hohem moralischem Anspruch, das Wirtschaftswunder aus eigener Kraft in Kayseri, nennt ein Bericht der European Stability Initiative (Esi) in Istanbul und Brüssel die »zentralanatolische Revolution«. Wo Opa vor 20 Jahren in riesigen, aus Ankara gelenkten Kombinaten arbeitete, haben die Söhne und Enkel von Kayseri ihr Glück selbst in die Hand genommen.
Und die Töchter? Die Esi unterschlägt im Bericht Islamische Calvinisten nicht die Probleme – die geringe Zahl arbeitender Frauen zum Beispiel. Vor knapp drei Jahren hatten nur 37 Prozent einen Job. Was hat sich geändert?
Berna Ilter führt an den Matratzenstapeln in ihrer Fabrikhalle vorbei. Die Männer an den Nähmaschinen schauen zu ihr auf, grüßen höflich, sie winkt zurück. Dann erklärt sie die Matratzenkulturen der Welt. Sie knetet ein seidenbespanntes Exemplar: »Die hier ist weich im Schulter- und Hüftbereich, die geht in die Niederlande.« Sie drückt auf die nächste Matratze. »Steinhart – das mögen die Pakistaner.« Berna Ilter hat sich auf den Weltmarkt spezialisiert. Eine türkische Chefin, die sich in Anatoliens Männergesellschaft durchsetzt, fürchtet die Globalisierung nicht. »Bevor ich Matratzen produzierte, habe ich mit Metallprodukten gehandelt.« In Nigeria verkaufte sie Stahltüren für Badezimmer und Toiletten. »Die hatten Angst, auf dem Klo überfallen zu werden, deshalb kauften sie meine schussfesten Türen.«
Für die 33-Jährige ist die Matratzenfabrik kein Lebenswerk, sondern eine von mehreren Möglichkeiten, als Frau erfolgreich zu sein. »Es gibt Frauen, die ihre Weiblichkeit einsetzen, um voranzukommen«, sagt sie. »Die nehme ich nicht ernst.«
Berna Ilter ist Mitglied in einem nationalen Interessenverband von Geschäftsfrauen – als bisher einzige Unternehmerin aus Kayseri. Stellt sie bevorzugt Frauen ein? »Das ist ein Problem. Bei mir arbeiten 70 Männer und nur elf Frauen. Viele wollen wegen der Kinder lieber von zu Hause aus arbeiten, das aber geht bei uns schlecht.« Berna Ilter wünscht sich einen Kindergarten für die Industriezone und spricht mit Kollegen darüber. »Denn ich will unbedingt mehr Frauen.« Spielt das Kopftuch dabei eine Rolle? »Nein.« Sie selbst trägt ihr langes Haar offen.
In ihrer Fabrik arbeiten Männer – und Frauen, mit und ohne Tuch. Die politischen Debatten in Ankara um das strikte Kopftuchverbot an Universitäten und in öffentlichen Gebäuden findet Ilter ermüdend – eine reine Männerdiskussion, die von den wirklichen Problemen des Landes ablenke. Als »säkulare Bürgerin« mag sie ihre Religion nicht zur Schau tragen. »Ich schaue nicht auf das Kopftuch, sondern auf den Kopf. Jede Frau sollte selbst entscheiden, ob sie das Tuch überwirft oder nicht.«
Die Mehrheit der Türkinnen trägt Kopftuch. Nach einer neuen Erhebung der privaten Sabanci-Universität binden es 49 Prozent ganz traditionell mit einfachem Knoten unterm Kinn. Da kann schon mal eine Haarsträhne heraushängen. Elf Prozent tragen den bei Säkularen besonders verhassten »Türban«, ein um Stirn und Hals geschlungenes Tuch, das nur das Gesicht freigibt.
»Das Kopftuch ist kein politisches Kampfsymbol«, sagt die Journalistin Ayşe Böhürler. »Es ist Teil unserer Kultur, darum tragen wir es.« Man müsse nicht westlich aussehen, um fortschrittlich zu denken. Die Sabanci-Umfrage fand heraus, dass die Zahl der Kopftuchträgerinnen unter der Regierung Erdoğan um zehn Prozent gesunken ist. Neu ist hingegen, dass immer weniger Kopftuchfrauen sich zu Hause verstecken. Sie arbeiten, fahren Bus, strömen in die Einkaufszentren und verlangen auf den Marktplätzen des streng säkularen Staates die gleichen Rechte wie Frauen ohne Kopftuch.
Worum es am Ende geht: Freiheit!
Sie ist vielleicht das wichtigste Motiv der »anatolischen Tiger«, wie man in der Türkei den wachsenden Mittelstand nennt. Es war der ehemalige Präsident Turgut Özal, ein Weltbanker und gläubiger Muslim, der die Tiger in den achtziger Jahren aus dem Käfig holte. Fort mit Devisenbewirtschaftung, Staatsknete und Zollmauern, her mit der Exportförderung. »Özal wollte, dass die Unternehmer nicht mehr in Ankara bei den Beamten Schlange stehen müssen, um Geld zu verdienen«, sagt Şahin Alpay, Politikwissenschaftler und Kolumnist in Istanbul. »Der neue Mittelstand begriff: Marktwirtschaft ist gut, Freiheit und Unabhängigkeit des Bürgers sind gut.«
Alles Forderungen aus dem emanzipierten Volk, die vielen Generälen und Staatsanwälten kalte Schauer über den Rücken jagen. Genau mit solchen Losungen wurde der gläubige Muslim Tayyip Erdoğan zum Premierminister gewählt. Die meisten seiner Anhänger kommen aus dem konservativen Anatolien, von der türkischen Peripherie. In Ankara ringt Erdoğan mit den Richtern, Beamten und Offizieren des Zentralstaates.
Wie erobert man das Zentrum? Mit Geld, war die klassische Replik der anatolischen Mittelklasse. Die neue Antwort: Mit Geist und Sendung, also mit Universitäten und Medien. Istanbul ist bühnengerechter Schauplatz der Auseinandersetzung. Medienmetropole, Industriegigant, Talkshow-Stadt – das kulturelle und intellektuelle Herz der Türkei, begehrt schon immer. Der osmanische Führer Mehmet Fatih nahm Konstantinopel 1453 ein. Fatih bedeutet »Eroberer«, ein gebräuchlicher Name seither.
Konservative Geschäftsleute aus Anatolien sponsern die Universität
Unweit der Mercedes-Lkw-Fabrik vor den Toren der Metropole haben anatolische Stifter vor zehn Jahren eine Universität dieses Namens gegründet. Nun kommen ihre Kinder hierher. Vom Fatih-Campus schauen die Studenten weit hinaus auf einen großen See und in eine erfreuliche Zukunft. Auf dem Rasen vor den backsteinernen Universitätsbauten sitzen Kopftuchfrauen neben solchen mit blondiertem langem Haar, glatt rasierte Männer neben Schnauzbärten, hellhäutige neben dunklen, sonnengegerbten Typen.
»Wir haben Studenten aus China und Afrika, Mittelost und Russland«, sagt Gökhan Back, Professor für Internationale Beziehungen. Natürlich sind die meisten Hochschüler Türken, übrigens: mehr Frauen als Männer. An der Fatih-Universität studieren rund 8000 junge Leute. Anders als an vielen Staatsuniversitäten kommen die meisten von ihnen nicht aus der Oberschicht von Ankara und Istanbul. »Sie stammen aus dem östlichen Hinterland«, sagt Back, »aus konservativen Familien, die uns vertrauen, die sich unserer Kultur nahe fühlen.«
Was meint er mit Kultur?
»Na ja, dass die Studenten sich in einer anständigen Atmosphäre bewegen, dass zum Beispiel an der Uni keine Drogen konsumiert werden.« Dazu gehört auch: Freitags gibt es keine Seminare während des Mittagsgebets. Und was kann man Anständiges lernen an der Fatih-Universität?
Back zählt auf: Verwaltungswissenschaften, Ingenieurwesen, Geisteswissenschaften, Ökonomie, Internationale Politik und Sprachen, Chinesisch, Englisch, Spanisch. Kein Arabisch, obwohl dieser Markt doch immer wichtiger für die Türkei ist?
»Nein«, sagt Back, »das könnte vom säkularen Establishment missverstanden werden.« Deshalb habe die Fatih-Universität bisher auch keine Fakultät für Religionswissenschaften eröffnet. »Für uns ist das zu riskant, wir sollten die Letzten sein, die über Religion reden.«
Weil man religiös ist. Die Universität wird von konservativen Geschäftsleuten aus Anatolien gesponsert, einer von ihnen ist Backs Vater. Alle stehen Fetullah Gülen nahe, dem Vordenker und Prediger eines von seinen Anhängern so verstandenen aufgeklärten Islams, der in der Türkei im Gefängnis saß, mehrfach von Arrest bedroht war und heute meist im amerikanischen Exil lebt. Gülen soll die Universität, die von seiner Bewegung getragen wird, nie gesehen haben. Er trifft indes die Studenten, die in seine Bewegung eintreten. »Viele von ihnen gehen in die Wirtschaft«, sagt Back. Ein Drittel kehrt in das Unternehmen der eigenen Familie zurück, einige heuern etwa bei Mercedes-Benz Türk an. Istanbul ist ein boomender Arbeitsmarkt. Ein Absolvent hat es bereits ins politische Zentrum geschafft, er sitzt als junger Abgeordneter für die AKP im Parlament.
Mitmischen in der großen Politik, in den Debatten der Türkei, dafür braucht es mehr als Parlamentssitze. Das Meinungsmonopol lag jahrzehntelang in den Händen säkularer staatsnaher Großunternehmer. Das ist vorbei. Der Angriff auf das Monopol kommt aus einem weißen Istanbuler Büropalast mit automatisch bewässertem Rasen – dem Hauptquartier der Zeitung Zaman.
Das einflussreiche Blatt hat eine Auflage von rund 750000 Exemplaren. Dazu kommen eine Nachrichtenagentur, ein Magazin und eine professionell gemachte englischsprachige Zeitung. Das Medienimperium gehört anatolischen Geschäftsleuten, die Fetullah Gülen nahestehen. Manche finden das Zaman- Gebäude mit seinem Atrium und den gläsernen Büros zu aseptisch, zu amerikanisch. Aber das strikte Rauchverbot und die betonte Reinlichkeit sind Teil des Selbstverständnisses. Hier werden Werte nach außen gekehrt: Anständig sei der Redakteur, aufrichtig, gut organisiert und gefeit gegen Verführungen aller Art. Man geht auf poliertem weißem Granit, blickt auf weiße aufgeräumte Tische allenthalben und nimmt die weiße Wendeltreppe hoch ins Büro des Verlagschefs und Chefredakteurs.
»Willkommen!« Ekrem Dumanl geleitet zu einem Möbel, das eine hübsche Synthese aus östlicher Geselligkeit und westlicher Moderne herstellt, einem langen Diwan, mit schwarzem Leder bezogen, kühl und schlicht, dazu ein Teetischchen aus Chrom und Weißlack. Und welche Synthese verkauft Zaman seinen Lesern? »Glaube, Werte und ein säkularer Staat passen zusammen«, sagt der 44-Jährige aus dem Städtchen Yozgat in Zentralanatolien. »Niemand will den Laizismus abschaffen.«
Das Ganze sei eine Gespensterdebatte. Was die Türkei wirklich erlebe, sei ein Klassenkonflikt. »Die Bürokratie, die Armee, die alten Eliten stören sich daran, dass die konservativen Anatolier ihre Werte betonen und trotzdem mitreden wollen.«
Werte? Steht dahinter die islamische »geheime Agenda«, vor der die Linkssäkularen warnen? Zwangskopftuch für alle? Dumanl wehrt ab. »Die Agenda gibt es nicht. Uns geht es um eine liberal-konservative Weltanschauung, Familienwerte und die richtige Mischung aus türkischer Kultur und westlicher Demokratie.« Und wie schlägt sich das in der Zeitung nieder? »Wir schreiben, die Türkei müsse liberaler gegenüber allen Glaubensrichtungen, sie müsse demokratischer und offener werden.« Zaman plädiere für den türkischen EU-Beitritt.
Die Europäische Union bedenkt Zaman schon jetzt intensiv. In Deutschland verkauft die Frankfurter Redaktion von Zaman bis zu 50000 Exemplare am Tag. Die englischsprachige Zaman in der Türkei liege bei ausländischen Diplomaten, Wissenschaftlern, Journalisten im Briefkasten, die Website werde in den USA und im muslimischen Malaysia am meisten gelesen.
Die englischsprachige Ausgabe ist ein Zuschussgeschäft mit strategischer Vision. Wann immer die Türkei in der Welt Schlagzeilen mache, »wollen wir unsere Sicht der Dinge in die Welt senden«, sagt deren Leiter. Er weiß, dass die Sicht des Auslands in den erbitterten innenpolitischen Kämpfen mitentscheidet. Die Türkei steht schließlich in Beitrittsverhandlungen mit der EU.
Handwerker entdecken die süßen Verführungen der Bourgeoisie
Am Ende noch die Frage: Wie macht der Chefredakteur eine Konservative-Werte-Zeitung? Dumanl lacht. Man verzichte einfach auf spärlich bekleidete Frauen im Ganzkörperformat, mit denen die Konkurrenz auf Seite eins gehe. »Wir haben lieber ein schönes Layout.«
Stil, Verpackung, Erscheinung sind wichtig für manche, die von der Peripherie ins Zentrum der Republik vorrücken. Istanbul ist der Laufsteg der schicken neuen Elite. Von Papas erdbraunen ausgebeulten Stoffhosen, von Mamas weitem Küchenkaftan wollen die erfolgreichen Junganatolier nichts mehr wissen. Warum auch, wenn es Prada gibt – oder Vakko, die türkische Aufsteigermarke. In Istinye Park, der neuesten Shoppingmall von Istanbul, ist zu besichtigen, wie sich der besser verdienende Anatolier globalisiert.
Kopftücher von Tekbir oder, wenn der Portozuschlag nicht stört, von Chanel. Keusche Kombinationen in Unschuldsweiß von Diane von Furstenberg. Der Caffè Latte danach ist wertfrei, gehört aber trotzdem dazu. Sie trägt Kopftuch und er das Baby, die älteren Kinder fahren Wasserscooter auf einem künstlichen See unter bunten Neonröhren. So vertreiben sich säkulare wie religiöse Männer und Frauen die Zeit. Istinye Park ist keine Oase der Frömmigkeit, aber eines der größten Einkaufszentren der Türkei, welche auch AKP-Bürgermeister fleißig fördern und in denen konservative Unternehmer ihre Aktien haben.
»Viele ehemalige Handwerker aus der Provinz haben längst die süßen Verführungen der Bourgeoisie entdeckt«, sagt Sebnem Gümüscü, die ihre Dissertation über die »neuen Eliten« der Türkei schreibt. »Religiöse Symbole wie das Kopftuch können dabei zum Konsumartikel werden.« Natürlich solle ein guter Muslim nicht zu viel konsumieren. Doch wenn man mal ein neues Auto brauche und es falle bei der Auslieferung zufällig etwas zu groß aus, dann könne man das immer mit der Erklärung rechtfertigen: »Ein guter Muslim verdient es auch.«
Immerhin, Mustafa Karaduman, der Kopftuchfabrikant, hat nach einer Tekbir-Modenschau unlängst Kritik von türkischen Islamisten einstecken müssen. Seine Modelle seien zu schick. »Im Islam ist es Frauen nicht erlaubt, kokett vor Männern herzustolzieren«, wetterte die islamistische Zeitung Milli Gazete, die dem Altislamisten Necmettin Erbakan nahesteht. Solche Modenschauen »in angeblich islamischem Geist« seien eine Schande.
Aber dieser Geist ist offenbar flexibel. In Istanbul entstehen geschlossene Wohnanlagen für Gläubige, die es sich leisten können. Die brandneuen teuren Wohnungen der Siedlung »Hilal konaklar« sind schon nach kurzer Zeit ausverkauft. Sie lockt mit einer kleinen Moschee, mit Palmen und einer Gegenstromanlage im Schwimmbecken, an das man sich bei praller Sonne nicht im Bikini, sondern im luftigen Hosenanzug setzt. Dem Herrgott und dem Hautarzt zu Gefallen.
Wer nicht das Geld hat, dauerhaft in derart gesitteter Umgebung zu leben, kann zumindest ein Wochenende in einem anständigen Hotel buchen. Das Byotell in Istanbul bietet einen Rundumblick auf ein neues boomendes Geschäftsviertel. Auf den drei unteren Etagen kämpfen das Health Food Restaurant, der Jasmina Beauty Club und das Antiaging-and-Slimming-Center für ein gesünderes Leben der Gäste. Das Hotel hat Familiensuiten und geräumige Diwane im Restaurant. Eine Moschee befindet sich ganz in der Nähe. In der Empfangshalle verkauft ein Juwelier golfballgroße Rubine und kalligrafische Gebetssprüche in Brillantenausführung. Daneben wirbt ein Reisebüro für Hadsch-Fahrten nach Mekka, wo man gegen Aufpreis ein Luxusappartement mit Blick auf die Kaaba mieten kann. Was das Hotel aber eigentlich von anderen unterscheidet, ist die Getränkeauswahl.
»Dürfen wir bitte die Weinkarte sehen?«
Der Kellner bedauert: »Wir führen keinen Alkohol.« Im ganzen Hotel nicht? »Im ganzen Hotel nicht.« Die neue Elite trinkt Fruchtsaft.
So werden Moderne und Glauben äußerlich versöhnt, westlich inspirierter Universalkomfort verschmilzt mit muslimischem Brauchtum. Das ist keine Religiosität in Reinkultur, sondern ihre behagliche Popularisierung. Nicht alle können so mustergültig sein wie Ali Bulaç, einer der geistigen Vordenker der gläubigen neuen Elite. Statt Fruchtsaft gibt es bei ihm Tee. Auf den ganzen glamourösen Rest verzichtet der Journalist und Mitgründer der Zeitung Zaman. Sein Büro hat er mit einem Holztisch, zwei Stühlen, einem Rechner und einer vertrockneten Zimmerpflanze bestückt. Die einzige Verzierung sind seine Artikel, mit denen er sich einen Ruf als Vordenker der anatolischen Eliten gemacht hat.
Bulaç stört es, dass die Modernität der Türkei von vielen daran gemessen werde, wie »westlich« sie aussehe. »Das Osmanische Reich hat sich geistig zu sehr nach Osten orientiert, die säkularen Eliten der Türkei starren zu sehr auf den Westen. Beide haben nur einen Flügel. Deshalb können sie nicht fliegen.« Anders die muslimischen Intellektuellen von heute – sie sprächen Englisch und Arabisch, sie läsen den Aufklärungsdenker Immanuel Kant und den mittelalterlichen Gelehrten Ibn Chaldun.
Kant und Chaldun, das ist lange her. Worin liegt die Modernität? Die Türkei habe im 20. Jahrhundert einen großen Sprung in die Moderne gemacht, sagt Bulaç. Der Staatsgründer Kemal Atatürk habe das Land von oben modernisiert. »Eine neue Bourgeoisie wurde geschaffen, der Fes verboten, das Kopftuch geächtet, der westliche Lebensstil imitiert, die als rückständig gebrandmarkte Religion vom öffentlichen Leben ausgeschlossen.«
»Die gläubigen Türken rufen nach bürgerlicher Freiheit«
Seither sei Frankreichs strenger Laizismus das Vorbild, erziehe der Staat das Volk, herrsche das Zentrum in Ankara über die Peripherie. »Das Land ist sowohl erstarrt«, urteilt Bulaç, »als auch erschüttert von der Modernisierung des 21. Jahrhunderts.« Die komme von unten. In der Provinz habe sich das anatolische Kapital mit dem gläubigen Volk verbündet und stütze die AKP-Regierung. Der Clou: Islam und Moderne seien in der Türkei keine Gegensätze, im Gegenteil. »Hier sind der Islam und der fleißige gläubige Mittelstand der Motor der Modernisierung«, sagt Bulaç.
Säkulare Kritiker werfen Premier Erdoğan vor, er suche einen nichtwestlichen Weg in die Moderne. »Falsch, es geht gläubigen Türken nur darum, nicht einfach den Westen zu kopieren, sondern universale Werte mit unseren zu verbinden.«
Das behaupten manche asiatischen Herrscher auch. »Wieder falsch, die asiatischen Modelle ähneln vielmehr dem Kemalismus. Wir wollen Modernisierung von unten statt von oben, Bürgerbeteiligung statt Bajonette.«
Auch die gläubigen Muslime schauten auf westliche Modelle, aber nicht mehr nach Frankreich, sondern auf Länder, »die entspannter mit Religion umgehen – so wie Großbritannien oder Deutschland«, sagt Bulaç. Auch so verändere sich die Religion im 21. Jahrhundert.
Scharia? Ach was. Noch in den neunziger Jahren wünschten sich bis zu 20 Prozent der Türken das islamische Recht. Heute sind es nur noch rund acht Prozent. »Die gläubigen Türken rufen nach bürgerlicher Freiheit und freier Marktwirtschaft«, sagt Ali Bulaç. »Sie wollen nicht bevormundet und nicht autoritär regiert werden. Und sie schätzen es nicht, wenn man ihnen sagt, wie sie auszusehen haben.«
Die Journalistin und Moderatorin Ayşe Böhürler gehört zu den vielen Türkinnen, deren Leben und Karriere ein steter Kampf mit Äußerlichkeiten war. Das Problem ist ihr Kopftuch. »Ich bin Mitglied des Gründungsrats der AKP, aber ich kann keine Abgeordnete im türkischen Parlament werden«, sagt sie. Denn in allen öffentlichen Gebäuden der Türkei sind Kopftücher verboten.
»Ich wollte mich für einen Magisterstudiengang einschreiben und wurde abgewiesen. Ich möchte im Fernsehen moderieren und werde wegen des Kopftuchs in die islamischen Kanäle abgedrängt. Säkulare Zeitungen nehmen meine Artikel nicht.« Manchmal sei es sogar schwer, einen Platz im Restaurant zu bekommen. Neulich besuchte sie mit Freundinnen eines im Istanbuler Cappuccinoviertel Nişantaşi. »Der Kellner kam an den Tisch und bat uns, das Lokal zu verlassen, da sich andere Gäste von unseren Kopftüchern gestört fühlten.«
Es sind auch diese Augenblicke im Alltag der säkularen Türkei, die gläubige Muslime zu Verbündeten der EU gemacht haben. Vieles, was Brüssel der Türkei in den Beitrittsverhandlungen abfordert, deckt sich mit den Wünschen der anatolischen Aufsteiger: Menschenrechte, Redefreiheit, die Trennung von Militär und Politik, Zivilisierung der Polizei, Demokratisierung der Institutionen, Umschulung der Richter und Gerichte, die nicht – wie heute noch – den Staat verteidigen sollen, sondern das Recht. Auf die Frage, wo sie sich die Türkei in 20 Jahren wünschten, antworten Unternehmer wie Saffet Arslan und Berna Ilter sowie Journalisten wie Ekrem Dumanl und Ayşe Böhürler einhellig: in der EU.
»Reformen nach europäischem Maß helfen uns in eine bessere Zukunft«, sagt Böhürler. Die radikalsäkularen Eliten indes, einst westliche Avantgarde in der Türkei, haben die Europäische Union längst als Verbündete der »islamischen Gefahr« ausgemacht und blockieren EU-Reformen, wo sie nur können.
Ihre feste Burg ist die Hauptstadt Ankara: breite Boulevards, staatliche Bankgebäude, lang gestreckte Verwaltungsklötze, Zäune und Stacheldrähte vor Militäranlagen, das massige Verteidigungsministerium, mehr Botschaften als Bars und Restaurants, Polizei an jeder Kreuzung, das Parlamentsgebäude aus dunklem Granit auf einem Berg genau 1923 Meter entfernt vom Grab Kemal Atatürks. 1923 ist das Geburtsjahr der säkularen Republik. Alles, alles ist Symbol im Zentrum des Staates.
Wer wirklich mitreden will, muss es dorthin schaffen. In einem Hinterzimmer des Parlaments sitzt Suat Klc, 34 Jahre, kurz geschorenes Haar, frisch rasiert, blauer Anzug, verbindliches Lächeln, eine kleine türkische Flagge im Knopfloch. Er sieht aus wie ein Musterabgeordneter – vielleicht auch weil er keine klassische Biografie eines Elitetürken aus Ankara oder Istanbul hat.
Sein Vater arbeitete auf dem Bau in Samsun am Schwarzen Meer und gründete später ein Bauunternehmen. Seine Brüder übernahmen die Firma vom Vater. »Ich selbst konsumiere, was sie produzieren«, lächelt Klc. Er durfte Jura studieren, wurde Journalist und arbeitete beim Fernsehkanal D. Als die AKP 2002 das erste Mal die Wahlen mit absoluter Mehrheit gewann, gehörte er mit 28 Jahren zu ihren jüngsten Abgeordneten. Er war im Zentrum angekommen.
Wie meist bei AKP-Parlamentariern, trägt Suat Klcs Frau Kopftuch. Hat er ein Problem mit dem säkularen Staat? »Nein«, empört sich Klc, »natürlich kann ein gläubiger Mensch sehr weltlich sein. Religiöse Regeln dürfen keine Richtlinie für den Staat sein.« Das Verhältnis zwischen gläubigen Muslimen und dem Staat müsse absolut säkular sein. Doch wie oft er in die Moschee gehe, ob seine Frau Kopftuch trage und in welchem Glauben beide die Kinder erzögen, sei Privatangelegenheit. »Auch im säkularen Staat.«
»Freiheit des Bürgers« – mit dieser Parole hat die AKP nach den gewonnenen Wahlen im Juli 2007 ein mit großem Lärm durchgepauktes Reformgesetz begründet. Wieder einmal ging es ums Kopftuch. Die Regierung hob ein Verbot auf, das in den meisten säkularen Staaten des Westens unvorstellbar wäre. Türkische Studentinnen durften bisher an Universitäten kein Kopftuch tragen. Das soll künftig erlaubt sein, damit mehr gläubige Familien ihre Kinder auf die Hochschulen schicken.
Es ist das erste von Hunderten Reformgesetzen der AKP, das irgendwie mit Religion zu tun hat. Der nach Symbolik dürstenden Basis der Partei tut es gut. Doch zugleich mobilisiert es die radikalsäkularen Kräfte und treibt den Kampf der alten gegen die neue Elite auf die Spitze. Wegen eines Stücks Stoff zerreißt die ganze Türkei.
In Ankara soll von Amts wegen die Regierung verboten werden
Das Gesetz wird der AKP nun zum Verhängnis. In Ankara soll – grotesk aus Sicht westlicher Demokratien – von Amts wegen die Regierung verboten werden. Das Verfassungsgericht brütet über der Klage auf sofortige Auflösung der konservativen AKP, die im Parlament die absolute Mehrheit hat. Für Premier Erdoğan, Präsident Gül und 71 weitere Parteimitglieder, darunter Ayşe Böhürler, sind Politikverbote beantragt. War das Kopftuchgesetz ein Fehler?
Suat Klc hebt abwehrend die Hände. »Es ist ein Gesetz, das die Mehrheit des Parlaments verabschiedet hat und hinter dem die Mehrheit der Türken steht. Wie kann das ein Fehler sein?«
Verliert die neue Elite ihren Einfluss, wenn die AKP verboten wird? Klc setzt eine Kampfesmiene auf: »Wir haben bei der letzten Wahl 47 Prozent der Stimmen erobert. Wenn sie uns jetzt verbieten, werden wir am Ende nur noch stärker werden.«
Hier scheint das ungebrochene Selbstbewusstsein der Junganatolier auf, die Zuversicht, auf der Siegesallee der Geschichte zu fahren. Hinter ihnen stehen reiche Unternehmer, Zeitungen, Fernsehkanäle, ganze Universitäten und das gläubige Volk.
Doch vielleicht war Tayyip Erdoğan allzu selbstbewusst. Der Premier selbst hat den Sieg gefährdet. Nach der gewonnenen Wahl 2007 gönnte er sich erst mal eine lange Reformpause, er arbeitete für das Kopftuchgesetz mit Nationalisten zusammen, er wischte Warnungen aus der eigenen Partei hochfahrend beiseite und provozierte den politischen Gegner durch eine lose Zunge. Jetzt privatisiert er einen Fernsehsender und schanzt ihn den eigenen Leuten zu. Erdoğan führt den Junganatoliern ex negativo vor, dass die Eroberung des Zentrums viel Fingerspitzengefühl und verlässliche Verbündete im säkularen Lager braucht. Daran mangelt es Erdoğan derzeit, auch deshalb wird seiner AKP der politische Prozess gemacht.
Doch eine Nachfolgepartei wird auf den Schreibtischen der AKP-Strategen schon geplant. Grundgedanke: Parteien und Politiker kann man verbieten, aber nicht das Volk. Suat Klc bleibt optimistisch: »Die Menschen werden uns wieder an die Macht bringen.« Dabei beruft er sich auf den Gründer der Türkei und die EU zugleich. »Atatürk hat gesagt, dass alle Souveränität dem Volk gehört. Die EU verlangt von uns demokratische Grundregeln des Zusammenlebens. Was wir wollen, ist nichts anderes: Demokratie, Demokratie, Demokratie.«
Die radikalsäkularen Eliten, die Armee, die Juristen und Polizisten, wissen um die erdbebengleiche Stärke dieses Arguments. Längst haben sie das gläubige Volk und den neuen Mittelstand fürchten gelernt, seinen Einfluss in Istanbul und Ankara, die Kopftücher und Schnauzbärte in Schlüsselpositionen des Landes. Sie greifen nun zu ihrem letzten Gegenmittel: die Türkei weiter daran zu hindern, eine echte Demokratie zu werden.
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