Wie Gülen triumphierte
Als Prospect und Foreign Policy die Liste ihrer 100 Kandidaten für die Umfrage zu den führenden 100 öffentlichen Intellektuellen zusammenstellten, hätte niemand von uns erwartet, dass ein türkischer religiöser Sufigelehrter, der im Westen nahezu unbekannt ist, so deutlich triumphieren würde. Und wir hätten auch nicht erwartet, dass auf den 10 vorderen Rängen ausschließlich Muslime zu finden sein würden. (Noam Chomsky, der bei der letzten Abstimmung 2005 gewonnen hatte, wurde diesmal als Bestplatzierter aus dem Westen 11.)
In diesem Jahr schienen zunächst der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa und der russische Schachgroßmeister und Anti-Putin Dissident Garri Kasparow das Rennen zu machen. Dann sah es eine Zeitlang so aus, als werde Al Gore nach Oskar und Nobelpreis auch diese Wahl gewinnen. Doch in der zweiten Woche setzte sich Fethullah Gülen quasi über Nacht an die Spitze und gab sie auch nicht mehr ab. Irgendwas war geschehen: Der Name Gülen wurde plötzlich von Stimmen nur so überschüttet, eine wahre Lawine, die bis zum Ende der Abstimmung rollte. Anfangs waren wir davon überzeugt, dass sich ein technisch begabtes Mitglieder der Fethullahçis - der Sammelbegriff für die Millionen Anhänger Gülens weltweit - ins System gehackt haben musste und dort ein ‚Auto-Voting‘ für sein Idol installiert hatte. Wir würden also den Täter ausfindig machen und seine Stimmen annullieren; alles würde wieder seinen gewohnten Gang nehmen, und Chomsky würde einen weiteren Sieg feiern.
Die Wahrheit war dann aber viel interessanter. Am 1. Mai hatte die Zaman - mit über 700.000 Exemplaren die auflagenstärkste Tageszeitung in der Türkei, die zudem noch über einige ausländische Ableger verfügt - auf ihrer Titelseite über die Liste von Prospect und Foreign Policy und die Einladung zur Stimmabgabe berichtet. Die Zaman steht der Gülen-Bewegung nahe, und in den kommenden Wochen wies die Zeitung immer wieder auf Gülens Erscheinen auf unserer Liste hin. Auch in anderen türkischen Zeitungen wurde die Umfrage erwähnt, wie auch auf jeder offiziellen und inoffiziellen Webseite von Gülen.
Die Effizienz und die Disziplin der Fethullahçis sind legendär. Deshalb dürfte es ihnen im Nachhinein betrachtet nicht schwer gefallen sein, eine Umfrage wie die unsere an sich zu reißen. Die Versuchung für Gülens Anhänger, ihren Mann an die Spitze einer Abstimmung zu heben, die von zwei einflussreichen westlichen Magazinen organisiert wurde, wird sehr stark gewesen sein. Insofern sagt Gülens Erdrutschsieg wenig darüber aus, was die Welt über ihre Intellektuellen denkt, verrät uns dafür aber umso mehr über den Organisationsgrad der Anhänger dieser Bewegung. Auf der anderen Seite deutet Gülens Sieg auch auf den Aufstieg eines neuen Intellektuellen-Typus hin, der seinen Einfluss vom Internet unterstützt über ein persönliches Netzwerk geltend macht, und nicht so sehr über Publikationen oder Institutionen. Das Muster eines öffentlichen Intellektuellen wie von Christopher Hitchens in seinem Artikel zu unserer Kandidatenliste beschrieben als „ein erst einmal auf sich allein gestelltes Individuum oder Herausgeber eines Minderheiten-Magazins“ oder als den Worten von Edward Skidelskys nach zu urteilen „jemand, dessen Buhlen um Aufmerksamkeit… auf einer perfekten Beherrschung von Worten und Gedanken gründet“ (Prospect, Juni 2008) wird vielleicht schon in den Ohren der nächsten Generation ziemlich veraltet klingen. (Andrew Keen wird diesen Punkt in der nächsten Ausgabe der Prospect beleuchten.)
Aber es gab da auch einen spezifisch türkischen Effekt. Als die amerikanische Zeitschrift Time ihre Leser im Jahr 1999 darum bat, ihre Persönlichkeit des Jahrhunderts zu wählen, war die Unterstützung für Mustafa Kemal Atatürk so überwältigend, dass er eine Zeitlang sogar in der Kategorie Top-Künstler und Entertainer vor Bob Dylan rangierte. Auch in unserer Umfrage konnten einige von diesem türkischen Effekt profitieren: Orhan Pamuk, der türkische Schriftsteller und Nobelpreisträger, und Bernard Lewis, der britische Historiker, der sich mit seinen Forschungen zum Osmanischen Reich einen Namen gemacht hat, erhielten ebenfalls viele Stimmen und wurden letztlich 4. bzw. 13. Keiner der beiden dürfte bei den Fethullahçis hoch im Kurs gestanden haben.
Und die übrigen Top 10-Platzierten? Unsere Leser hatten jeweils 5 Stimmen, und die Tatsache, dass die meisten Gülen-Anhänger Muslime waren, dürfte auch Yusuf al-Qaradawi, Amr Khaled (der auf der Webseite ‚Facebook‘ bei seinen Anhängern um Stimmen warb), Abdolkarim Soroush und Tariq Ramadan zugute gekommen sein, die allesamt wohlbekannte religiöse Persönlichkeiten in der islamischen Welt sind. Muhammad Yunus, Shirin Ebadi und Aitzaz Ahsan sind Muslime, die sich in muslimischen Ländern als Aktivisten einen Namen gemacht haben. Die ersten beiden sind Nobelpreisträger, der dritte führt die Proteste gegen Musharraf an, von denen Pakistan im letzten Jahr erschüttert wurde. Mahmood Mamdani, ein in den USA ansässiger politischer und postkolonialer Theoretiker, fällt hier vielleicht ein wenig aus dem Rahmen, aber auch er hat einen muslimischen Background (er wurde in eine indische Familie in Uganda geboren), und er hat sich vehement gegen die US-Außenpolitik ausgesprochen.
Dieser ‚muslimische Effekt‘ scheint die Macht der Vernetzung insbesondere in den liberaleren Teilen der muslimischen Welt widerzuspiegeln. Natürlich benötigte man einen Internetanschluss, um seine Stimme abgeben zu können, aber generell ermöglichen Emails und Webseiten die Verbreitung von Nachrichten und Kampagnen innerhalb von Stunden. In der Türkei gibt es heute über fast 3 Millionen ‚Facebook‘-Nutzer. Das sind, sieht man einmal von den USA, Großbritannien und Kanada ab, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Farsi, die Geschäftssprache im Iran, ist Berechnungen zufolge die weltweit am vierthäufigsten in Blogs genutzte Sprache.
Nicht jeder Versuch, die Abstimmung zu beeinflussen, war von Erfolg gekrönt. Presseberichte über bestimmte Kandidaten, die in Indonesien, Kanada, Indien und Spanien erschienen, hatten nur geringen Einfluss. Einer unserer Kandidaten, der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev, war so freundlich, uns davon zu unterrichten, dass eine der größten Zeitungen seines Landes ihre Leser aufgefordert hatte, ihn zu unterstützen. Er drängte uns, alle Stimmen für ihn, die von bulgarischen Emailadressen aus abgegeben würden, zu annullieren. Aber diese Kampagne verfehlte ihre Wirkung auf die Bulgaren.
Der Hund, der nicht bellte, war in diesem Fall China. Die 5 chinesischen Namen auf unserer Liste fanden sich bestenfalls im Mittelfeld wieder, wobei dieses Abschneiden immerhin besser war als das der Chinesen 2005. Anfangs sah es sogar danach aus, als sollten die Chinesen diesmal noch schlechter dastehen, doch in der letzten Abstimmungswoche ging es dann rasant aufwärts. Möglicherweise hatte die Kunde von der Umfrage das Informationsministerium erst verspätet erreicht. Bei der nächsten Abstimmung jedenfalls sollte man sich nicht wundern, wenn die Chinesen dominieren - eine Kampagne zur Mobilisierung von einigen wenigen Millionen Sufis dürfte gegen die geballte Macht der chinesischen Informationsmaschine verblassen.
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