Ich sehne mich nach einem Menschen mit einem aufgewühlten Herzen
Dem, was ich hier sehe, entnehme ich, dass Sie dazu neigen, sich die Dinge schwer zu machen. Sie verlassen nur selten das Haus oder Ihr Zimmer. Man hat mir gesagt, dass Sie nicht einmal zum See hinunter gehen. Warum tun Sie das? Bestrafen Sie sich absichtlich selbst? Oder liegt es daran, dass Ihre Seele nicht stark genug ist, einen Schritt nach draußen zu unternehmen?
Spaß, Spiel und Vergnügungen liegen nicht in meiner Natur. Selbst als ich jung war, befasste ich mich eher mit Dingen wie Riyazat [Selbstverwirklichung auf esoterischer Ebene], die mir angemessener erschienen. Wenn ich das Gefühl hätte, es wäre nützlich, würde ich auch gelegentlich in ein Café gehen und dort sitzen. Ich möchte aber nichts tun, was unnütz ist. Das gilt auch für das Spazierengehen; es sollte irgendeinem Zweck dienen. Aus diesem Grunde sitze ich lieber im Haus und lese den Koran oder spreche meine Pflichtgebete und das Ziqr [religiöse Gesänge zum Gedenken Gottes]. Wenn ich Zeit habe, redigiere ich z.B. ein Buch oder versuche, etwas zu schreiben. Ich finde es sinnvoller, ein Licht anzuzünden, den Menschen Nutzen zu bringen. Ja, es kann tatsächlich sein, dass ich nur dreimal in den letzten fünf Jahren zum See gegangen bin. Ich habe nicht jeden Winkel meiner Umgebung erforscht.
Die Natur hat eine wohl tuende Seite. Warum möchten Sie nicht davon profitieren? Sprudelnde Bäche, mächtige Bäume...
Die Ärzte sagen das Gleiche. In meinem Alter brauche ich Calcium. Im Sommer haben sie mich quasi mit Gewalt für eine Viertelstunde an die frische Luft geführt und dort drüben neben die Kamelie gesetzt. Es ist nicht so, dass meine Seele unglücklich oder krank wäre. Auch als ich noch in der Türkei war, bin ich nicht oft nach draußen gegangen. Überall dort, wo ich gerade lebe, beschäftige ich mich mit Büchern. Wenn jemand kommt und neben mir Platz nimmt, rede ich gern mit ihm. Das war auch schon in Istanbul so. Als ich noch jung war, bin ich öfter ins Freie gegangen. Ich habe Grabstätten besucht und Ya Sin (eine Koransure) gelesen. Heute schätze ich dies [das Haus nicht zu verlassen] mehr.
Die Dinge, die in der Türkei geschehen sind, beunruhigen mich. Sie lassen mein Herz bluten. Die Aufgabe positiver Dinge, das Ruinieren der Stabilität, die Menschen, die üble Nachrede üben und wenig Stilvolles von sich geben, die Existenz rückständiger Überzeugungen in einer Türkei, die ich für fortschrittlich gehalten hatte - all dies beunruhigt mich zutiefst. Es ist mir unverständlich, dass es so rückwärts gerichtete Menschen gibt. Die religiösen Menschen wurden als rückständige Menschen bezeichnet. Ich allerdings denke, dass es keinen anderen Ort gibt, an dem das reaktionäre Denken so weit verbreitet ist wie in der Türkei.
Viele Menschen lieben Sie, aber haben Sie auch Freunde? Es scheint mir fast so, als seien Sie ein Einzelgänger in einer großen Menschenmenge, oder liege ich da falsch?
Wenn ich über ein bestimmtes Thema spreche und das Wort ,Rangstufe' benutze, kann der Eindruck entstehen, ich befände mich allein auf meiner eigenen Stufe, und dessen schäme ich mich. Ich vermisse einen Menschen, der in seinem Innern Qualen leidet; jemanden, mit dem ich mich über die islamische Welt und die Situation in der Türkei austauschen, mit dem ich meine Sorgen teilen könnte. Ich sehne mich nach einem Menschen mit einem aufgewühlten Herzen.
Aber Sie haben keinen solchen Menschen, oder?
Auf dieser Ebene, würde ich sagen, gibt es niemanden, der alles mit mir teilt. Manchmal fühle ich mich nachts, als würde ich ersticken. Dann bohrt sich irgendetwas in meinen Kopf, etwas, das ich im TV gesehen oder irgendwo gehört habe. Man steht auf und betet oder versucht zumindest zu beten. Ab und zu jedoch ist man auch dessen überdrüssig. Man wünscht sich, jemand wäre da, jemand, mit dem man seine Sorgen teilen könnte. Sorgen schwinden dahin, wenn sie geteilt werden. In diesem Zusammenhang würde ich nicht davon sprechen, einen loyalen Freund gefunden zu haben. Ich habe viele enge Freunde, Freunde, die mich sehr lieben. Aber ein Freund in Gedanken muss genau wie man selbst sein, er darf seinen Schmerz nicht nach außen tragen. Dieser Freund müsste im Innern brennen wie Feuer. Er müsste eine starke Bindung an Gott haben, aber gleichzeitig bescheiden sein. Dieser Freund wäre in der Lage, die Dinge, von denen Sie sprechen, zu teilen.
In gewisser Hinsicht empfinde ich es als respektlos, über mich selbst nachzudenken. Ich sollte das nicht tun. Denn ich glaube an Gott; also sollten sich all meine Überlegungen auf Ihn konzentrieren. Ich sollte immerzu an Ihn denken. Und weil ich auch an den Propheten Muhammad glaube, sollte mein Denken auch stets ihm gelten. Ich habe nie etwas anderes im Sinn gehabt als mein Volk. Das hätte ich auch nicht haben dürfen. Ich muss mich für dessen Wohl einsetzen. Wenn man nun niemanden auf der gleichen Ebene hat, mit dem man seine Sorgen teilt - und das habe ich tatsächlich nicht, wie Sie ja wohl erkannt haben; Sie sind klug, also werden sie es erkannt haben -, dann sollte man, sollte ich zugeben, dass ich einsam bin.
Dieses Schicksal teilen Sie offenbar mit so manchem volksverbunden religiösen Menschen. Bewusst oder unbewusst entsteht eine Distanz zwischen den Liebenden und ihren Geliebten. Sie können nicht einfach Freunde ihrer Meister sein. Das hat auch eine psychologische Dimension. Ich frage mich, ob dies auch Ihnen so widerfahren ist?
Ich bemühe mich, soweit ich kann, mich von Gründen zu reinigen, die mich davon abhalten könnten, die Gunstbeweise und die Großzügigkeit des Allmächtigen Haqq [der Absoluten Wahrheit, ein Attribut Gottes] zu empfangen. Ich sage: „Betet für mich! Vergesst mich nicht in euren Gebeten! Wenn ich etwas sage, dann möchte ich es euch ins Gesicht sagen können. Ich sage: „Ihr seid die Quelle meiner Inspiration." Aber wenn ich diese Dinge sage und denke, und wenn ich mich mehrmals am Tag bescheiden verneige, kann dies bei meinem Gegenüber unter Umständen dazu führen, dass er mir Lob zollt und mich preist. (Wobei zu bedenken ist: Wenn wir uns nicht vor einer Unendlichkeit verneigen, und Gott ist unendlich groß, und wir sind nichts, dann können wir mit unserer Anbetung nicht die höchsten Höhen erklimmen.) Ich würde das aber nicht bemerken. Solange man sich selbst als winzig wahrnimmt und stets bescheiden und pietätvoll spricht, könnte und wüsste ich, wie ich zu meiner Schande zugeben muss, nicht, wie ich meinen Gegenüber überzeugen sollte. Es passiert also nicht, weil ich darauf drängen würde. Muslime erachten niemanden für heilig; denn wer wirklich heilig ist, ist offenkundig. Ihr Lob könnte also höchstens einer bestimmten Denkweise gelten. Sie könnten sagen: „Man kann ihn nicht mit allem belasten. Wir sollten ihn nicht so viel stören. Lassen wir ihn doch in seiner eigenen Welt leben. Er hat seine Grenzen. Lassen wir ihn fliegen wie eine Taube!" Ich kann den Menschen diese Ideen nicht nehmen. Wir sitzen am gleichen Tisch, teilen die Mahlzeiten und trinken Tee zusammen. Wenn mehrere Freunde hier sind, sitzen wir hier und unterhalten uns von Zeit zu Zeit. Aber das, was Sie meinen, ist möglicherweise unterschwellig immer greifbar. Ich würde darüber kein Wort verlieren.
Ich frage mich, ob Sie vielleicht nur deshalb keinen Seelenverwandten finden können, weil die Menschen, die in Liebe mit Ihnen verbunden sind, Ihre Grenzen nicht kennen.
Ich bin kein Mensch, der schwer zu verstehen oder wahrzunehmen wäre. Ich bin ein einfacher Mensch. Meine Füße stehen nicht über den Wolken. Ich bin so wie das Umfeld, aus dem ich hervorgegangen bin. Aber ich kann andere Menschen nicht daran hindern, ihr eigenes Urteil zu fällen. Dazu bin ich nicht in der Lage. Ich kann auch nicht sagen, sie würden nicht verstehen; das wäre ungerecht. Es ist ja wirklich so: Ich bin auf den Kanzeln der Moscheen, an öffentlichen Plätzen, in Konferenzen und Seminaren aufgetreten und habe dargelegt, was zu tun ist. Ich möchte damit sagen, dass dies in keiner Weise organisiert war. Diese Menschen folgen diesen Empfehlungen. Sie gehen in die Welt hinaus. Sie haben dort Dinge erreicht und bemühen sich auch weiterhin. Auch heute tun sie, was wir sagen. Sie verstehen, wer man ist, sie verstehen mehr [als früher]. Sie haben Bildungsaktivitäten und Toleranz angesprochen. Diese Dinge werden auf wunderbare Weise vorangetrieben. Auch darin liegt eine Form von Würdigung. Wenn sie meine Vorstellungen nicht respektieren würden, würden sie auch nicht so handeln. Würden sie mir nicht vertrauen, dann würden sie gar nichts tun. Meiner Meinung nach sind Freunde vertrauensvoller und solidarischer als notwendig. Dies ist die eine Seite, und das Teilen bestimmter Sorgen eine andere. Möglicherweise reflektieren sie nach außen nicht das, was sie im Innern fühlen. Vielleicht leide ich unter diesem Problem. Ich klage, weil ich die Geliebten nicht erreichen kann, da ich mit anderen Geschöpfen befasst bin. Sie tun es nicht. Deshalb bleibt mir das, was in ihrem Inneren vorgeht, verborgen. Wahrscheinlich bin ich zu ungeduldig. Wenn jemand sagt: „Irgendwo ist ein Brandherd", werde ich unruhig. Vielleicht sind sie aber auch zu geduldig. Sie sprechen die Dinge nicht an und behalten sie für sich. Eine solche Haltung ist einem Dialog nicht förderlich. Sie spaltet, führt aber auch nicht zu einem Zerwürfnis. Wir sind durchaus in der Lage, zu sitzen, zu reden, Menschen zu treffen und einige Sorgen zu teilen.
Bestimmte Vorfälle haben einige Leute misstrauisch gemacht; aber dass es einzelne Verschwörungen lässt sich nicht bestreiten.
Es heißt, die islamische Gemeinschaft neige dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben. Es gab zum Beispiel Theorien, die besagten, der 11. September sei von Amerika selbst inszeniert worden. Wenn es darum geht, die Welt zu erklären, werden aber auch andere Verschwörungstheorien herangezogen.
In der ganzen Welt kursieren zahlreiche Verschwörungstheorien. Und diesen wird eifrig nachgegangen. In der einen Hälfte der Welt existieren Ideen, die andere Hälfte als Konsequenz der eigenen Kalkulationen niederzubrennen. Möglicherweise existieren auch Pläne, die Paranoia in der Gesellschaft noch anzustacheln, um den Menschen Angst zu machen. Zu diesem Zweck bedient man sich auch des Mittels der Einschüchterung. Damit will ich aber nicht sagen, dass wir den 11. September unbedingt in diese Kategorie einordnen müssen. Klar ist jedoch, dass große Verschwörungen immer viel Beachtung finden. Die gleichen Dinge passieren immer wieder. Manches geschieht einige Jahre später erneut, diesmal nur in einer anderen Form. Dann beginnen wir alle an solche Verschwörungstheorien zu glauben. Istanbul wurde von Explosionen erschüttert. So etwas passiert auch woanders. Bereitwillig oder widerwillig sagen die Menschen: „Ich frage mich wirklich, ob dies nur darauf zurückzuführen ist, dass man die Männer zu Robotern gemacht hat?" Oder ist es nicht vielmehr so, dass einige Menschen diese und jene Welt zusammenbringen und die Botschaft verbreiten wollten, dass wir alle die gleiche ungerechte Behandlung erfahren und Unterdrückung, Grausamkeit und Terror teilen? Wurden die Anschläge verübt, weil einige Leute gesagt haben: „Kommt, lasst uns zusammenschließen!" Es gibt so viele Beispiele. Am Ende hält man das für möglich. Darüber hinaus sind die Menschen skeptisch geworden gegenüber allem, was in der Öffentlichkeit geschrieben oder erklärt wird. Sie fragen sich: „Was meint der und der wohl wirklich, wenn er das und das sagt?"
Einige Vorfälle haben die Menschen in der Welt so misstrauisch gemacht, dass sie alles, was geschieht, als Teil einer Verschwörung betrachten. Auch die Medien sind davon betroffen. Es gibt Menschen, die sehr gern bereit sind, sich an Verschwörungstheorien zu beteiligen. Obwohl ich die These der Verschwörungstheorien gewiss nicht generell stütze, lässt sich nicht abstreiten, dass es auch einige Verschwörungen in der Welt gibt.
Hatte der 11. September einen negativen Einfluss auf die Bildungsprogramme, zu denen sie ermuntern - d.h., auf die Bemühungen der Bewegung, Schulen in aller Welt zu gründen?
Er hatte keine so großen Auswirkungen. Vielleicht gab es an einigen Orten Menschen, die Angst hatten. Mit so etwas waren sie bislang nie konfrontiert gewesen. Es gab Beispiele dafür, dass Menschen verhört wurden; aber sie wurden dann wieder frei gelassen. Man sagte ihnen: „Wir haben uns geirrt." Ich führe das auf die Umgangsformen unserer Leute und auf die Umgangsformen unserer Freunde sowie auf ihre ehrbare Arbeit zurück; auch darauf, dass unsere Freunde an jenen Orten einen Dialog mit der einheimischen Bevölkerung führen. Sie haben Großartiges geleistet und sind wie Diplomaten aufgetreten.
Andererseits hatte der 11. September eine große Wirkung auf das amerikanische Volk. Er hat sie besorgt und ängstlich gemacht. Sie haben Maßnahmen ergriffen. Sie haben eine neue Behörde [das Ministerium für Heimatschutz] eingerichtet. Man kann sagen, dass eine große Ernsthaftigkeit Amerika überkommen hat. Das sieht man schon an den Flughäfen. Dort werden Fingerabdrücke genommen und Fotos gemacht. Aufenthaltsgenehmigungen, die früher recht problemlos ausgestellt wurden, sind heute nur schwer zu bekommen. Aber ihre Angst galt nicht in erster Linie unserer Verbindung zu den Vorfällen, sondern vor allem der Tatsache, dass wir Türken sind. Auch Türken sind Muslime. Theoretisch würden sie in die gleiche Kategorie fallen. Aber die Türkei ist anders, und davon profitieren wir. Die Türkei ist ein demokratisches und säkulares Land. Solche Dinge [terroristische Aktivitäten] finden dort nicht statt. Die Dinge, die vorgefallen sind, können nicht von religiösen Menschen verübt werden. Arabische, palästinensische, jordanische und saudi-arabische Moscheen wurden unter strenge Aufsicht gestellt. Aber ich glaube nicht, dass so etwas [das Nehmen von Fingerabdrücken und Fotos] auch in der Türkei praktiziert wird. Ich habe jedenfalls nie davon gehört.
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