Wenn doch Art und Weise und Zeitpunkt des Todes eines jeden Menschen vorherbestimmt sind, worin liegt dann die Schuld eines Mörders?
Die etablierten und allgemein anerkannten Prinzipien der empirischen Wissenschaften bestätigen, dass vom Mikrokosmos bis hin zum Makrokosmos alles nach Maßgabe eines solchen Entwurfes und eines solchen Zieles erschaffen wurde und funktioniert. In der Tat ist es unmöglich, die im Universum waltende Ordnung, Harmonie und Großartigkeit ohne die Vorherbestimmung zu verstehen oder zu erklären. Auch hätten niemals bedeutende Fortschritte in der Wissenschaft erzielt werden können, wenn es diese Vorherbestimmung nicht gäbe. Nur weil dieser vorherbestimmte, mathematische und geometrische Entwurf existiert, sind wir in der Lage, in den Labors Forschungen betreiben zu können, die verlässlichen Prinzipien folgen, und sowohl die Menschheit als auch den Raum zu erforschen.
In einem Universum ohne Harmonie, in einer Welt ohne Plan und Programm oder in einer Natur ohne Ordnung ist kein einziger Wissenschaftszweig vorstellbar. Alle Bereiche der Wissenschaft sind in der Tat Werkzeuge, die uns dabei helfen, all das, was bereits in der gesamten Schöpfung existiert, zu reflektieren und allgemein bekannt zu machen. Sie alle tun nicht mehr, als den Prinzipien, die diese Schöpfung beherrschen, unterschiedliche Namen und Titel zu verleihen.
Ich möchte nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass ich wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen keinesfalls abqualifizieren will. Indem ich ihren Stellenwert und ihre Bedeutung erläutere, möchte ich lediglich die wichtige Tatsache in Erinnerung rufen, dass im Universum schon Ordnung und Harmonie herrschten, lange bevor die jeweiligen Entdeckungen und Erfindungen gemacht wurden. Wie verehrungswürdig der Allmächtige und Allwissende Schöpfer doch ist, der mit Seiner Verfügung Ordnung und Harmonie zu Grundlagen des Universums bestimmte.
Heutzutage gibt es einige Soziologen, die versuchen, die Prinzipien, die für alle anderen Lebewesen im Universum Gültigkeit zu besitzen scheinen, auf menschliche Gemeinschaften anzuwenden. In ihrem Vergleich äußert sich jedoch ein extremer Fatalismus, oder genauer gesagt, eine extreme dschabriya (islamische Richtung, die die Unabänderlichkeit des verhängten Geschickes lehrt), die einer strengen Kritik zu unterziehen ist. Und doch mag dieser Vergleich insofern nützlich sein, als dass er eine Vorherbestimmung anerkennt, von der das Universum und seine Anordnung abhängen.
Jede Tatsache, die sich auf den Glauben bezieht, ist eine Tatsache, weil dies eben so ist. Keine dieser Tatsachen bedarf irgendeines Beweises oder der Anerkennung durch den Menschen, da sie alle von Gott kommen. Sie sind erhaben und stehen über allen Dingen. Sie sind keineswegs auf die Bestätigung oder den Beweis durch den Menschen angewiesen, nur um als plausibel gelten zu können. In meinem Bemühen, einige Leute, deren Herz und Geist in die Irre geführt wurden, auf den rechten Weg zurückzurufen, glaube ich jedoch, dass es von Nutzen sein wird, den Behauptungen jener, die vom richtigen Weg abgekommen sind, entgegenzutreten. Aus diesem Grunde möchte ich mich an diesem Gespräch beteiligen. Im Übrigen ist es ganz offensichtlich, dass von den Atomen bis hin zu den Galaxien alles auf vorzügliche Art und Weise in Ausgewogenheit, Harmonie und Ordnung abläuft. Allein das beweist, dass - ohne Einschränkung - alles von einem Allmächtigen Souverän vorherbestimmt ist. Seit Anbeginn der Zeit gehorcht alles, was da existiert, Seinem Willen, Seiner Macht und Seiner Vorherbestimmung und unterwirft sich ihnen.
Aber obwohl die Erschaffung von Lebewesen, die über Willen und Freiheit verfügen, aus einer Notwendigkeit heraus geschah und sie zur gleichen Zeit wie die übrigen Geschöpfe erschaffen wurden, wurde bezüglich ihrer Handlungen, die sie auf Grund ihres freien Willens ausübten, erst später unterschieden. Gott hat dem Menschen die moralische Freiheit geschenkt zu glauben, nachzudenken, sich eine Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Sonst könnte es so etwas wie Persönlichkeit, Individualität und Charakter ja auch gar nicht geben. Daher unterscheidet sich die Vorherbestimmung für Geschöpfe wie den Menschen von ihrem zentralen Inhalt her von der Vorherbestimmung anderer Lebewesen. Die Frage stellt sich jedoch nur, weil bestimmte Leute nicht in der Lage sind zu erkennen, dass sich der Charakter der Schöpfung des Menschen grundsätzlich von dem der Schöpfung anderer erschaffener Wesen unterscheidet. Sie gehen davon aus, dass es sich mit der Schöpfung des Menschen genauso verhalte wie mit der Schöpfung von Dingen. Wenn wir also begreifen, inwiefern sich der Mensch von anderen Geschöpfen unterscheidet, kann uns dies dabei helfen, zumindest einen Teil des Problems zu lösen. Anzuerkennen, dass das Wissen (ilm) Gottes alles umfasst, wird letzte Zweifel beseitigen.
Dem Menschen werden Willensfreiheit, Wahlmöglichkeit und Neigungen zugestanden, die allesamt real sind. Dadurch, dass er von seiner Willensfreiheit und Wahlmöglichkeit Gebrauch macht, tut er Gutes oder Schlechtes bzw. erntet Lohn oder Strafe. Entscheidend ist nicht, in welchem Verhältnis die Bedeutung und das Gewicht der Entscheidung eines Menschen zu den Konsequenzen seiner Wahl stehen - wenn der Schöpfer der Auffassung ist, dass dessen Wille eine ausreichende Bedingung und Begründung für jene Folgen darstellt, die sich aus dieser Wahl ergeben, dann hängt die Schuld bzw. Unschuld dieses Menschen davon ab, wie er von seiner Wahlmöglichkeit und von seinen Neigungen zum Bösen oder Guten Gebrauch gemacht hat. Selbst wenn die Resultate seines Willens oder seiner Neigungen gewichtiger erscheinen, als der Mensch selbst beabsichtigt und vorausgesehen hat, muss er die Verantwortung oder Schuld in vollem Umfang auf sich nehmen; denn er selbst hat diese Resultate herbeigeführt, indem er seine Wahlmöglichkeit und seine Neigungen hat wirken lassen. Das Höchste Wesen, das diese Verantwortung oder Schuld im Voraus kennt, vorherbestimmt und erschafft (insofern, als dass Es deren Materialisierung ermöglicht), ist von dieser Verantwortung und Schuld absolut frei und unbelastet.
Nehmen wir einmal an, Gott hätte verfügt, wenn wir zu viel Luft einatmen, würden wir dadurch einen Klimawechsel heraufbeschwören. Er würde uns sagen: „Wenn ihr mehr als eine ganz bestimmte Menge einatmet, werde Ich überall dort, wo ihr euch aufhaltet, eure Lebensbedingungen verändern. Da wir jedoch überhaupt keinen Bezug zwischen der Anzahl unserer Atemzüge und Veränderungen im Klima sehen würden, würden wir mehr Luft einatmen, als uns gestattet wurde, und somit etwas tun, was verboten ist. Daraufhin würde Er, wie versprochen, eine Klimaveränderung veranlassen. Natürlich liegt eine solche Klimaveränderung nicht im Bereich unserer Möglichkeiten. Wären wir aber nicht trotzdem für sie verantwortlich, da wir es ja wären, die sie ausgelöst haben?
Ähnlich wie in diesem Beispiel wird ein Mensch für die Konsequenzen dessen, was er durch den Gebrauch seines freien Willens (ikhtiyar und iradat al-dschuz’iya; Willensfreiheit und teilweise Willenskraft) bewirkt hat, entweder für schuldig befunden und bestraft oder als treuer Gläubiger eingestuft und belohnt. Deshalb ist jemand, der den Tod eines anderen Menschen herbeiführt, schuldig, und falls ihm am Tag des Jüngsten Gerichts nicht vergeben wird, wird er ganz gewiss bestraft werden.
Wenden wir uns nun dem zweiten Aspekt dieser Frage zu: Wie lassen sich der freie Wille des Menschen und das allumfassende Wissen Gottes in Einklang bringen?
Im Wissen Gottes sind die Existenz und alles, was über sie hinausgeht, mit Ursachen und Wirkungen verbunden, die ihnen zugehörig sind. Die Existenz und alles, was über sie hinausgeht, bzw. ihre Ursachen und Wirkungen sind ineinander verschachtelt. Im Wissen Gottes werden das Vorher und Nachher und Ursache und Wirkung zu zwei Seiten ein und derselben Münze. Vorher und Nachher bzw. Ursache und Wirkung sind dort gleichzeitig schon bekannt, bevor sie überhaupt existent werden. Sie lassen sich vorhersehen und sind entsprechend festgelegt. Egal welche Neigungen zu was für Dingen auch immer bestehen mögen und unabhängig davon, wer seinen Willen für was auch immer und wie auch immer einsetzt - da alles bereits im Voraus bekannt ist, wird der freie Wille eines Menschen durch die Festlegung von Wirkungen der Ursachen weder gebunden noch gestärkt oder eingeschränkt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Da diese Vorherbestimmung unter Berücksichtigung der Neigungen des einzelnen Menschen vorgenommen wird, bedeutet das, dass dessen freier Wille berücksichtigt und ihm Bedeutung beigemessen wird. Wenn Gott also einem Seiner Diener offenbart, Er werde all das erschaffen, was dieses Individuum sich wünscht, und damit auch die Folgen dieser Wünsche vorherbestimmt, da Er sie ja schon vor der Erfüllung dieser Wünsche sieht, dann heißt das, dass Er dem Willen dieses Individuums volle Beachtung schenkt. Vorherbestimmung bedeutet daher weder, dass ein Mensch genötigt oder dazu gezwungen wird, etwas zu tun, was er eigentlich gar nicht tun will, noch, dass etwas im Voraus beurteilt oder verdammt wird. Der Mensch ist nicht dazu verpflichtet, einem vorgeschriebenen Kurs zu folgen. Aber er ist für sein Handeln verantwortlich.
Schicksal und Vorherbestimmung sind Programme, die auf der Grundlage des Wissens Gottes ablaufen: Sie sind Pläne und Programme, die eine Kombination dessen darstellen, was Er im Voraus über die Neigungen des Menschen weiß und was Er in Bezug auf diese Neigungen zu erschaffen gedenkt. Wenn man etwas im Voraus weiß, entscheidet oder bewirkt man damit nicht, dass es tatsächlich so ist oder geschieht. Der Wille und die Macht Gottes sind es, die bewirken, dass die Dinge auf Grundlage der Neigungen des Menschen ins Dasein treten. Die Dinge, die sich ereignet haben und ins Dasein getreten sind, haben sich also nicht deshalb ereignet bzw. existieren nicht deshalb, weil sie schon vorher bekannt waren. Im Gegenteil, sie sind bekannt, weil sie existieren. Das Gleiche gilt für die Vorherbestimmung. Ein Meteorologe kann zwar das Wetter mit einem großen Maß an Genauigkeit vorhersagen, das bedeutet jedoch nicht, dass er es auch entstehen lässt. Die uneingeschränkte Fähigkeit Gottes, die Ergebnisse der Entscheidungen und Neigungen der Menschen im Voraus zu kennen und zu sehen und somit sicherzustellen, dass diese in Erfüllung gehen, bedeutet auf der Basis dessen, was der Mensch sieht, ebenfalls nicht, dass Er diese auch bewirkt.
Um es zusammenzufassen: Durch Sein Wissen, das die Vergangenheit und die Zukunft umfasst, kennt Gott alle Ursachen und Wirkungen im Voraus. Er weiß im Voraus, wer sich zu was hingezogen fühlen wird und wer versuchen wird, seine Wünsche zu realisieren. Dementsprechend entscheidet Er, was Er hinsichtlich dieser Wünsche erschaffen möchte. Wenn die Zeit für ein Ereignis gekommen ist, erschafft Er dies, so wie Er es für richtig hält. Dabei berücksichtigt Er den freien Willen des Menschen, dessen Entscheidung und Wünsche. Selbstverständlich kennt Gott Todesart und -zeitpunkt jedes Menschen im Voraus - auch dann, wenn jemand umgebracht wird. Dieses Vorherwissen nimmt dem Mörder aber nicht seine Schuld und enthebt ihn nicht der Verantwortung für sein Verbrechen. Der Mörder wird bestraft werden, weil Gottes Wille dem Willen des Mörders Beachtung schenkt.
Dieses Thema sollte unter Berücksichtigung der entsprechenden islamischen Quellen diskutiert werden. Was hier gesagt wurde, stellt das Thema lediglich auf einfache Art und Weise dar, um es für alle verständlicher zu machen."
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