Warum greifen wir bei der Interpretation des Islam und der islamischen Wahrheiten überhaupt auf die Wissenschaft und auf wissenschaftliche Fakten zurück?
Die Wissenschaft und die von ihr präsentierten Fakten können und sollen auch dazu genutzt werden, islamische Fakten zu untermauern. Wenn wir diese aber einsetzen, um mit unserer Gelehrsamkeit zu glänzen und anderen mit unserer Autorität zu imponieren, dann wird das, was wir von uns geben, unsere Zuhörer - wenn überhaupt - nicht auf positive Art und Weise beeinflussen. Worte und Argumente, die klar und überzeugend sein mögen, verlieren möglicherweise ihre Wirkung und erreichen die Herzen unserer Zuhörer nicht: Sie dringen höchstens bis zum Trommelfell vor und nicht weiter. Wenn unsere Argumente lediglich darauf abzielen, unsere Zuhörer zu beruhigen, nicht aber darauf, sie zu überzeugen, dann haben wir es selbst zu verantworten, wenn man unseren Worten kein Vertrauen schenkt und wir bei der Verfechtung unserer Anliegen scheitern. Wenn wir dagegen versuchen, mit glaubwürdiger Rechtschaffenheit zu überzeugen, werden diejenigen, die eine solche Argumentation brauchen, zufrieden gestellt, auch wenn wir selbst gar nicht bemerken, dass und wie dies geschieht. Manchmal ist ein aufrichtig eingesetztes Argument weit effektiver als ein Argument, das mit Nachdruck und sehr emotional vertreten wurde, auch wenn man es zunächst gar nicht so empfindet. Unser vorrangiges Ziel im Umgang mit der Wissenschaft und wissenschaftlichen Fakten muss sein, das Wohlgefallen Gottes zu erlangen. Wir müssen weiterhin vor allem darauf achten, dass wir uns mit unserer Argumentation auf den Wissensstand unserer Zuhörer begeben.
Die Wissenschaft ist der Religion keineswegs überlegen. Grundlegende islamische Sachverhalte benötigen keine Rechtfertigung durch moderne wissenschaftliche Fakten, um glaubwürdig zu sein. Wer etwas anderes behauptet, liefert sich der Wissenschaft aus und gibt damit zu, dass er Zweifel an den Wahrheiten des Islam hegt. Genauso falsch wäre es, die Wissenschaft oder wissenschaftliche Fakten als entscheidende Kriterien für die Authentizität und den göttlichen Ursprung des Koran zu akzeptieren und sie so dem Koran überzuordnen. So eine Einordnung wäre nicht nur absurd, sondern auch verabscheuungswürdig und auf keinen Fall zu tolerieren. Argumente für und Hinweise auf die Wissenschaft haben im Idealfall einen sekundären, unterstützenden Charakter und können uns vor allem dabei helfen, die Tür zu einem Weg zu öffnen, von dessen Existenz einige Menschen sonst gar nichts erfahren würden.
Die Wissenschaft sollte daher als Instrument eingesetzt werden, um Menschen wachzurütteln, die sonst weiterschlafen oder sich nicht von der Stelle bewegen würden. Stellen wir sie uns doch einfach als eine Art Bürste vor, mit der wir die Wahrheit und das Verlangen nach Wahrheit, die regungslos und wie erstarrt im Bewusstsein so vieler Menschen verborgen liegen, von Staub befreien können. Wenn wir dagegen die Wissenschaft als absolute Wahrheit betrachten, werden wir letztendlich immer nur versuchen, Koran und Hadith dieser anzupassen. An Stellen aber, wo die Wissenschaft nach heutigem Stand noch nicht mit Koran und Hadith in Einklang zu bringen ist, werden wir mit einer solchen Haltung nur Zweifel und Skepsis säen.
Unsere Position muss vielmehr klar und eindeutig sein: Koran und Hadith sind uneingeschränkt wahr. Wissenschaft und wissenschaftliche Fakten sind solange wahr, wie sie sich mit Koran und Hadith vereinbaren lassen. Sobald sie aber von diesen abweichen, müssen sie als unwahr gelten. Selbst unstrittige wissenschaftliche Fakten können nicht als Säulen fungieren, die die Wahrheiten des Glaubens tragen. Sie können und sollen nur als Werkzeuge akzeptiert werden, die unsere Gedanken anregen und uns zum Nachdenken anregen. Denn Gott ist Derjenige, der die Wahrheiten des Glaubens in unserem Bewusstsein begründet. Wenn man meint, die Wissenschaft könne diesen Prozess leisten, unterliegt man einem schweren Irrtum. Der Glaube entsteht ausschließlich durch die Rechtleitung Gottes. Wer dies nicht begreift, begeht einen Fehler, der nur schwer wieder gutzumachen ist. Während ein solcher Mensch nämlich das Universum auf Beweise hin abklopft und versucht, es im Namen Gottes sprechen zu lassen, wird er immer ein Diener und Anbeter der Natur bleiben, obwohl er sich dieser Tatsache gar nicht bewusst ist. Er wird die Pflanzen beobachten und studieren und sich über die Unfertigkeit und die Entstehung von Pflanzen auslassen, aber nicht das kleinste Grün oder der winzigste Keim des Glaubens wird in seinem Bewusstsein sprießen. In seinem ganzen Leben wird er niemals die Existenz Gottes innerhalb seines Bewusstseins spüren. Rein äußerlich wird man ihm nicht ansehen, dass er die Natur anbetet, in Wirklichkeit jedoch wird er sein ganzes Leben lang nichts anderes tun.
Ein Mensch kann so lange als Gläubiger (Mu'min) gelten, wie er den Glauben (Iman) in seinem Herzen trägt. Dies ist viel entscheidender als die Anhäufung von Wissen in seinem Kopf. Ist ein Mensch bei der Anhäufung von Wissen durch objektive oder subjektive Beweise schon weiter fortgeschritten, muss er seine Abhängigkeit von den äußeren Umständen sowie von den Eigenschaften und Bedingungen jener Beweise über Bord werfen und versuchen, seine spirituelle Entwicklung voranzutreiben. Gelingt es ihm mit Hilfe des Lichts und der Orientierung des Koran, alle Abhängigkeiten abzuschütteln und dem Weg seines Herzens und seines Bewusstseins zu folgen, wird er, so Gott will, die Erkenntnis finden, nach der er sich sehnt. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant drückte dies einmal so aus: "Ich fühlte das Bedürfnis, alle Bücher, die ich gelesen habe, hinter mir zu lassen, um an Gott zu glauben."
Zweifellos besitzen das große Buch des Universums, das Buch der wahren Natur des Menschen und all die Bücher, die diese zu interpretieren versuchen, ihren angemessenen Platz und ihre eigene Bedeutung. Aber nachdem der Mensch sie studiert und von ihnen profitiert hat, sollte er sich von ihnen frei machen und von Angesicht zu Angesicht mit seinem Glauben leben. All das, was hier zur Sprache kam, mag Menschen, die noch nicht weit in die Erfahrung von Glauben und Bewusstsein eingedrungen sind, reichlich abstrakt erscheinen. Jene aber, die ihre Nächte dem Gebet widmen und denen durch die Hoffnung Gott näher zu kommen, Flügel wachsen, werden es verstehen.
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