Khawf und Khaschya (Furcht und Ehrerbietung)
In der Sprache des Sufismus bezeichnet der Begriff Furcht das Sich-Fernhalten von Dingen und Handlungen, die streng verboten sind, und von solchen, von denen abgeraten wird. Furcht ist das Gegenteil von Hoffnung und (freudiger) Erwartung. Sie erinnert den Reisenden auf dem Weg zur höchsten Wahrheit daran, dass er sich vor einem Absturz und vor der Bestrafung durch Gott im Jenseits niemals sicher fühlen darf und sich deshalb vor Eitelkeit und vor der Verwendung unschicklicher Worte des Selbstlobes in Acht nehmen muss.
Dem muslimischen Mystiker al-Quschairi zufolge ist die Furcht ein Gefühl, das den Reisenden auf dem spirituellen Weg dazu zwingt, sich zurückzuhalten und nicht das Missfallen Gottes zu erregen; somit sei sie auf die Zukunft hin ausgerichtet. Furcht entsteht entweder aus der Ahnung, irgendwelchen unerfreulichen Dingen ausgeliefert zu sein, oder aus dem Unbehagen, demnächst vielleicht auf Dinge verzichten zu müssen, die man lieb gewonnen hat. In diesem Sinne ist die Furcht tatsächlich an die Zukunft gebunden. Der Koran weist in vielen Versen auf die Konsequenzen hin, die menschliche Handlungen in der Zukunft haben werden. Damit zielt er auf die Gründung einer Welt ab, die die Zukunft schon mitberücksichtigt. In der Welt, die der Koran etablieren möchte, lässt sich die Zukunft bereits in all ihren Dimensionen erkennen. Indem der Koran den Herzen seiner Anhänger die Furcht vor dem Tod oder die Sorge, als gläubige Muslime zu sterben, einpflanzt, ermahnt er sie, im Glauben an den Islam und in seiner Praxis standhaft zu sein. Es gibt viele Verse, die das Herz vor Furcht erzittern lassen und dem Garn ähneln, aus dem der Lebensfaden gesponnen ist, zum Beispiel:
Aber es wird ihnen von Allah das erscheinen, mit dem sie nimmermehr gerechnet haben.[1]
Sprich: „Sollen wir euch die nennen, die bezüglich ihrer Werke die größten Verlierer sind? Das sind die, deren Eifer im irdischen Leben in die Irre ging, während sie meinten, sie täten etwas Gutes.[2]
Wie glückselig sind doch diejenigen, die in der Lage sind, ihren Lebensfaden mit diesem Garn zu spinnen. Mit Warnungen wie diesen richtet der Koran unsere Aufmerksamkeit auf das Jenseits und sorgt dafür, es höher einzuschätzen als alles andere.
In Seiner klaren Sprache bedient sich Gott, der Allmächtige, der Furcht als eine ,Peitsche', mit der Er uns in Seine Nähe treibt, um uns dann mit Seiner Begleitung zu belohnen. Wie eine Mutter, die ihr Kind tadelt, um es dann in ihre warmen ausgebreiteten Arme zu schließen, richtet diese Peitsche unsere Aufmerksamkeit auf die Intensität der Gnade Gottes und bietet uns dann die Gunstbeweise und den Segen Gottes an. Gott zwingt den Menschen somit, sich Seine Gnade und Barmherzigkeit zu verdienen und sie aus Seiner Hand entgegen zu nehmen. Alle Anordnungen und Gebote, die im Koran erwähnt werden und denen die Menschen verpflichtet sind, haben ihren Ursprung in der Gnade Gottes. Die Anordnungen und Gebote dienen also nicht allein dem Zweck, die Menschen zu ermahnen und ihnen zu drohen, sondern sollen auch die Seelen beglücken.
Jemand, dessen Herz Gott fürchtet und Ihm ehrfurchtsvoll begegnet, ist von der Furcht vor anderen (einer unheilvollen Furcht, die nutzlos und belastend ist) gefeit. In Seiner klaren und stets Beistand gewährenden Sprache warnt der Allmächtige die Menschen, niemanden und nichts außer Ihm zu fürchten:
...fürchtet Mich, wenn ihr gläubig seid.[3]
Er ermahnt sie, sich nicht in nutzlosen Ängsten aufzureiben:
Und Mich allein sollt ihr fürchten.[4]
In Versen wie Sie fürchten ihren Herrn über sich und tun, was ihnen befohlen wird.[5] und Ihre Seiten halten sich fern von (ihren) Betten; sie rufen ihren Herrn in Furcht und Hoffnung an...[6] lobt Er die Herzen, in denen die Furcht vor Gott Blüten trägt und die Ehrfurcht Ihm gegenüber gedeiht; denn ein Mensch, der sein Leben auf Gott hin ausrichtet, setzt seine Willenskraft behutsam ein und bemüht sich, keine Fehler zu begehen. Empfindsame und vorsichtige Seelen ,fliegen' in die Himmel der Anerkennung und des Wohlgefallens Gottes. Folgender Ausspruch des Autors von Luddscha charak-terisiert dies sehr treffend:
„Fürchtest du dich vor Gottes Zorn, sei standhaft in der Religion,
Denn ein Baum hält sich mit seinen Wurzeln bei gewaltigen Stürmen am Boden fest."
Die niedrigste Form von Furcht ist die Furcht, die die Religion vorbehaltlos einfordert. Sie drückt sich im Vers ...fürchtet Mich, wenn ihr gläubig seid.[7] aus. Um eine Stufe höher wird jene Furcht eingeschätzt, die dem Wissen oder dem Lernen entspringt:
Wahrlich, nur die Wissenden unter Seinen Dienern fürchten Allah.[8]
Über dieser schließlich liegt die Stufe, die dem Wissen um Gott entspringt und zusätzlich Furcht mit Ehrfurcht verknüpft. Diese bringt der Vers Und Allah warnt euch, vor Sich Selber achtlos zu sein.[9] zum Ausdruck.
Einige Sufis kennen nur zwei Kategorien von Furcht: Ehrfurcht und Ehrerbietung. Obwohl diese beiden Begriffe eine nahezu gleiche Bedeutung tragen, bezeichnet Ehrfurcht die Gefühle, die den Eingeweihten zu Gott fliehen lassen. Ehrerbietung hingegen veranlasst ihn, bei Gott Zuflucht zu suchen. Ein Eingeweihter, der ständig in Ehrfurcht lebt, denkt zunächst an Flucht; ein anderer wiederum, der sich nach einer Zuflucht sehnt, wird sich dagegen darum bemühen, diese bei Gott zu finden.
Diejenigen, die es vorziehen, Ehrfurcht zu empfinden, bleiben auf der Flucht und machen sich ein Weiterkommen auf ihrem Weg selber schwer. Sie führen ein asketisches Leben und erleiden die Schmerzen, die aus der Isolierung vom Allmächtigen resultieren. Diejenigen jedoch, die der Ehrerbietung den Vorzug geben, trinken das süße erfrischende Wasser der Nähe zu Gott, das ihnen gewährt wird, weil sie bei Ihm Zuflucht suchen und seine Nähe mehr und mehr begehren.
In ihrer vollkommenen Form war die Ehrerbietung eine Eigenschaft der Propheten. Als hätten sie die Trompete Israfils gehört und müssten sich nun dem majestätischen Gericht der Wahrheit stellen, glaubten die Propheten, sie seien bereits tot. Sie lebten ständig im Bewusstsein des Verses Und als nun sein Herr dem Berg erschien, da ließ Er ihn zu Schutt zerfallen. Und Moses stürzte ohnmächtig nieder.[10] Jener, der Gott am nächsten kam, der Meister der Ehrerbietung, sagte:
Ich sehe, was ihr nicht seht, und höre, was ihr nicht hört. Wüsstet ihr doch nur, dass die Himmel ächzten und knirschten. Das mussten sie auch tatsächlich. Denn wo sich keine Engel niederwerfen, gibt es nicht einmal vier Finger breit Platz. Ich schwöre bei Gott, dass ihr, wenn ihr über die Erhabenheit Gottes so viel wüsstet wie ich, nur wenig lachen, aber viel weinen würdet. Ihr würdet nicht mehr bei euren Frauen liegen, sondern auf den Feldern und zu Berge Gebete zu Gott ausstoßen.[11]
Der Prophet zeigt uns damit seine Ehrerbietung, die ihm befiehlt, Zuflucht bei Gott zu suchen, und beschreibt außerdem die Ehrfurcht, die andere dazu veranlasst, zu fliehen. Abu Dharr schildert dieses Verlangen zu fliehen in seinem Zusatz zur eben zitierten Prophetentradition: „Ich wünschte mir, ein Baum zu sein, entwurzelt und in Scheiben geschnitten."
Jemand, der entschlossen ist, Gott gegenüber ehrfürchtig und ehrerbietig zu sein, begeht keine Sünden - auch dann nicht, wenn er keine Furcht zu verspüren scheint. Suhayb, ein Gefährte des Propheten, gehörte zu denjenigen, die sich durch ihre Ehrfurcht gegenüber Gott Anerkennung verschafften. Der Gesandte Gottes lobte ihn ausdrücklich:
Welch exzellenter Diener Suhayb doch ist! Auch wenn er Gott nicht fürchten würde, würde er keine Sünden begehen![12]
Ein gottesfürchtiger Mensch stöhnt gelegentlich, und manchmal weint er auch. Dadurch versucht er (vor allem dann, wenn er allein ist), das Feuer des Schmerzes, so weit von Gott entfernt zu sein, und das Feuer der Hölle, der größtmöglichen Entfernung zwischen Gott und dem Menschen, zu löschen. In einer Tradition heißt es:
Ein Mann, der aus Furcht vor Gott weint, wird nicht eher in die Hölle kommen, als dass die Milch, die (aus einer Zitze) gesaugt wurde in die Brust (der sie entnommen ist) zurückfließt.[13]
Tränen sind am besten dazu geeignet, das Höllenfeuer zu löschen. Manchmal bringt der Mensch durcheinander, was er tun sollte und was nicht. Er befürchtet, dass das, was er getan hat, seinen Fantasien entsprang oder durch sein fleischliches Selbst initiiert wurde, und hat Angst, dass er versäumt hat zu tun, was er eigentlich hätte tun müssen, weil der Teufel ihn in Versuchung geführt hat. Darum fühlt er ein tiefes Bedauern und sucht Zuflucht bei Gott. Menschen, die so fühlen, werden in der folgenden Tradition beschrieben:
Als der Vers ,...und jene, die da spenden, was zu spenden ist, und jene, deren Herzen beben, weil sie zu ihrem Herrn zurückkehren werden...'[14] enthüllt wurde, befragte Aischa, die Frau des Propheten, ihren Mann zur Bedeutung dieses Verses: „Sind jene Menschen (die Ehrfurcht haben, da sie zu ihrem Gott zurückkehren) auch gleichzeitig Menschen, die größere Sünden wie z.B. Ehebruch, Diebstahl oder Trinken von Alkohol begangen haben?" Der Prophet antwortete: „Nein, Aischa, in dem Vers werden diejenigen angesprochen, die trotz der Durchführung der vorgeschriebenen Gebete und trotz Almosen und Fasten vor Furcht so sehr zittern, dass ihre Akte der Anbetung nicht von Gott akzeptiert werden."[15]
Abu Sulayman Darani behauptete, ein Diener Gottes müsse sich zwar sowohl fürchten (davor, dass Gott nicht mit ihm zufrieden ist und ihn deshalb bestraft) als auch hoffnungsvoll sein (dass Gott mit ihm zufrieden ist), im Zweifel wäre es aber für ihn sicherer, wenn sein Herz vor Furcht und Ehrerbietung erzittere.[16] Scheich Ghalib teilte die Sichtweise Daranis und drückte seine Gefühle so aus:
„Öffne (o Gott) die Augen meiner Seele mit tausendfacher Furcht!"
[1] 39:47
[2] 18:103-104
[3] 3:175
[4] 2:40
[5] 16:50
[6] 32:16
[7] 3:175
[8] 35:28
[9] 3:28, 30
[10] 7:143
[11] Tirmidhi, Zuhd, 9; Ibn Madscha, Zuhd, 19
[12] Adschluni, Kaschf al-Khafa', 323
[13] Tirmidhi, Fada'il al-Dschihad, 8; Nasa'i, Dschihad, 8
[14] 23:60
[15] Tirmidhi, Tafsir al-Qur'an, 24
[16] siehe Quschairi, ar-Risala, 128"
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