Qabd und Bast (Anspannung und Entspannung)

Qabd (Anspannung) und bast (Entspannung), die jeder Mensch gelegentlich verspürt, sind vor allem für diejenigen von Bedeutung, die ihr Leben bewusst führen.

Wörtlich heißt qabd (Anspannung) ‚gefangen sein', ‚sich in einer Notlage oder Stresssituation befinden', in der Sprache des Sufismus findet dieses Wort Verwendung, wenn die Verbindung zwischen dem Menschen und der Quelle seiner spirituellen Geschenke für eine Weile unterbrochen und er infolgedessen bedrückt ist und unter einer spirituellen Blockade und ‚Verstopfung' leidet. Bast (Entspannung) dagegen kann als Entlastung, Ausdehnung, Entwicklung und Befreiung von jener Verstopfung beschrieben werden. Durch bast entwickelt sich der Suchende innerlich und spirituell so stark weiter, dass er zu einem Werkzeug der Gnade in der Sphäre des Seins wird und alle Dinge oder Wesen umarmt.

Furcht und Hoffnung oder Erwartung sind bewusste Haltungen und erste Stationen des Reisenden auf dem Weg zur Wahrheit. Anspannung und Entspannung hingegen sind geheimnisvolle ‚Geschäfte', zu denen der Wille oder auch die Absicht des Reisenden keinen Zugang haben. Erstere blockiert seinen Weg, Letzere lässt ihm auf seinem Weg zu den Gipfeln Flügel wachsen.

Während Furcht und Hoffnung Ängste vor der Zukunft und vor geliebten und ungeliebten Dingen bzw. Vorfreuden auf diese darstellen, können Anspannung und Entspannung mit dem Sich-Zusammenziehen eines Herzens voller Schwermut und Trübsinn bzw. mit einem freudigen Herzschlag verglichen werden.

Anspannung und Entspannung haben für Menschen, die an den Hängen des Wissens reisen, die gleiche Bedeutung, die Furcht und Hoffnung oder Erwartung für Menschen besitzen, die sich gerade erst auf den Weg gemacht haben.

Anspannung und Entspannung liegen in der Hand Gottes, auch wenn einige Bereiche des freien Willens ebenfalls einen gewissen sehr begrenzten Anteil an ihnen besitzen:

Und Allah schmälert und mehrt.[1]

Da die ganze Existenz sich in Seiner Hand befindet und Seiner freien Verfügung unterliegt, ist Er es, der alle Dinge von der Erde bis hin zum menschlichen Herzen dirigiert. Der Ausspruch des Propheten Das Herz befindet sich zwischen den beiden Fingern des Gnädigen. Er führt es von einem Zustand zum anderen und gibt ihm die Form, die Er sich wünscht.[2] erinnert uns an diese Tatsache.

Wenn Gott will, lässt er das Herz extrem zusammenschrumpfen und leiden, indem Er es Dinge begehren lässt, die nur Er gewähren kann. Bei anderer Gelegenheit weitet er es und erfreut es so sehr, dass es wunschlos glücklich ist.

Anspannung wird durch die Macht Gottes erzeugt, Entspannung durch Seine Gnade. In der Anspannung spiegeln sich die Pracht und Herrlichkeit der Manifestationen aller Namen Gottes in der ganzen Existenz wider, während sich in der Entspannung die Gnade und das Wesen eines Wohltäters manifestieren. Der Anspannung wohnt das Furcht erregende, Ehrfurcht gebietende und majestätische Wesen jener Kraft, die die Existenz dirigiert, inne; die Entspannung spendet den Menschen, die vor Ehrfurcht vor dieser unendlich großen überwältigenden Macht und Herrlichkeit erstarren, eine gütige Brise.

Nicht alle Menschen können die Manifestationen der Macht und der Gnade mit der gleichen Intensität empfangen. Das Ausmaß von Anspannung und Entspannung entspricht den emotionalen und spirituellen Fähigkeiten des Menschen. Selbstverständlich ist das, was ein normaler Mensch an Anspannung und Entspannung oder Freuden verspürt, nicht mit den spirituellen Freuden und Ängsten derer vergleichbar, die die spirituellen Wahrheiten erfahren haben, die immerzu darauf bedacht sind zu sehen, was durch die halb geöffnete Tür der jenseitigen Sphären auf sie zukommt, und die sich der Tatsache bewusst sind, dass sie stets von oben überwacht werden.

Wie alles andere und jedes Ereignis in der Existenz liegen Anspannung und Entspannung in der Hand des Schöpfers. Sie unterliegen dem gleichen Wechsel wie Tag und Nacht. Es mag zwar Handlungen des Menschen geben, die seinem freien Willen entspringen und zum Wechsel von Anspannung und Entspannung beitragen; der Wille Gottes aber ist es, der die Zeitspannen der beiden Zustände verlängert oder verkürzt. Er unterwirft den Menschen Spannungen oder lässt ihn vor Freude schier überfließen. Es gibt Zeiten, in denen sich der Mensch wie ein Vogel fliegend über einen langen Zeitraum nicht in der Anspannung verfängt. Dann wieder wird er so häufig und über einen so langen Zeitraum hinweg von ihr heimgesucht, dass er sich fühlt, als rolle er von einem Abgrund in den nächsten, und als sei er großem Leid ausgesetzt.

So wie die Anspannung dadurch hervorgerufen wird, dass wir nicht das erfüllen, was Gott Sich eigentlich von uns verspricht, bringen auch Sünden in der Regel Anspannung mit sich. Der Gläubige muss also, während er unter Anspannung leidet, ständig auf der Hut sein, keine neue Sünden zu begehen. Er muss dafür Sorge tragen, dass ihm keine Unachtsamkeit unterläuft, und sich darum bemühen, dass ihm seine Sünden durch aufrichtige Reue und gute Taten verziehen werden. Er muss dastehen und abwarten, was aus der jenseitigen Sphäre auf ihn zukommt.

Anspannung wird von Furcht, Verwirrung und Gefühlen spiritueller Leere begleitet; Entspannung manifestiert sich in Freude, Verzückung und einigen Gefühlen oder Ausdrücken von Stolz. Daher kann die Entspannung in Verbindung mit Heiterkeit für spirituell nicht sehr weit fortgeschrittene Menschen, die sich noch nicht dem Reisen in den ‚himmlischen' Sphären anpassen konnten, riskant sein. Auch die Anspannung birgt gewisse Risiken in sich, die allerdings nicht so gefährlich und zahlreich sind wie jene der Entspannung. Denn jemand, der sich in einem angespannten Zustand befindet, spürt normalerweise, dass er auf den Allmächtigen angewiesen ist; er wendet sich Ihm zu und gesteht seine vollkommene Bedürftigkeit ein. Er fleht Gott an, ihn zu halten, damit er nicht falle. Ihm wird, während er der spirituellen Wüste entkommt, die Unterstützung des Allmächtigen zuteil, und er erklimmt Gipfel, die er in Phasen der Entspannung und Heiterkeit nicht erreichen kann. Aus diesem Grund sind manche Menschen in Phasen der Entspannung der Verwirrung und dem Verlust spiritueller Energie ausgesetzt. Die Anspannung wiederum hilft jedoch fast allen Menschen, sich in einen Zustand der Wachsamkeit hineinzuversetzen. Außerdem stellt eine Anspannung, die einer Sünde oder Nachlässigkeit unsererseits entspringt, oft den Beginn einer neuen Entspannungswelle dar. Im Gegenzug kann eine Entspannung, die Stolz weckt und zum Verlust der spirituellen Energie führt, auch neuen Anspannungen den Weg ebnen.

Ein wahrer Gläubiger ist ein Mensch, der jeden Zustand, in dem er sich gerade befindet, in all seinen Aspekten beurteilen und von jedem Zustand profitieren kann.

Anspannung und Entspannung sind Seine Manifestationen für die Wissenden;
Er entspannt den Diener so, dass er dankbar sein sollte, und spannt ihn an, damit er aufmerksamer wird.

 


[1] 2:245
[2] Musnad, 2.173; Tabari, Tafsir, 3.126

 

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