Die Türkei braucht eine neue Verfassung
„Vertrauen und Stabilität sind für die Entwicklung eines Landes und ihrem internationalen Ansehen die Grundlage. Einer demokratischen und verantwortlichen Regierung, die Rechtsstaatlichkeit respektiert, wird ein inhärentes Vertrauen geschenkt. Die Türkei hat dieses Vertrauen im vergangenen Jahrzehnt sorgfältig aufgebaut. Bis vor kurzem wurde sie von vielen Ländern der Region als Beispiel gesehen, die unter Beibehaltung einer demokratischen Regierung von aufmerksamen muslimischen Führungskräften den Wohlstand der Nation sicherte. Nicht mehr.
Eine kleine Gruppe innerhalb der Exekutive hält den Fortschritt des ganzen Landes in Vormundschaft. Die Unterstützung eines breiten Teiles des türkischen Volkes wird nur verschwendet, unter anderem auch die Möglichkeit, der EU beizutreten.
Kritik seitens EU-Länder gegenüber der Türkei
Mehrere Verfahren der jüngsten Zeit seitens der türkischen Regierung haben heftige Kritik seitens einiger EU und westlicher Länder ausgelöst. Darunter ist das Gesetz zu nennen, das dem Justizminister die Befugnis gibt, Richter und Staatsanwälte zu ernennen und zu bestrafen, der Gesetzentwurf zur Eindämmung zur Beschränkung der Internet-Freiheiten und ein Entwurf, der dem Geheimdienst Befugnisse gibt, die wir aus diktatorischen Regimes kennen.
Nach Jahrzehnten von Putschen und politischer Instabilität war das Ende der Einmischung des Militärs in die Innenpolitik notwendig. Demokratische Reformen, die auf dieses Ziel hinwirkten, wurden von der EU geschätzt und von der Mehrheit der Türken unterstützt, wie auch das Verfassungsreferendum 2010 gezeigt hat.
Militär abgelöst durch die Exekutive
Die militärische Dominanz in der Politik scheint nun durch die Hegemonie der Exekutive ersetzt worden zu sein. Die heimtückische Etikettierung von Gruppen türkischer Staatsbürger aufgrund ihrer Weltanschauungen, die konstante Umbesetzung von Beamten für politische Bequemlichkeiten und beispiellose Unterwerfung der Medien, der Justiz und der Zivilgesellschaft haben über die Erfolge der letzten zehn Jahre einen dunklen Schatten geworfen.
Der einzige Weg für die türkische Regierung, Vertrauen wiederherzustellen und im Ausland wieder Ansehen zu genießen ist durch die Erneuerung ihrer Verpflichtung für die universellen Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und eine verantwortungsbewusste Staatsführung. Diese Verpflichtung muss eine neue, demokratische, von der Zivilbevölkerung entworfene Verfassung umfassen. Demokratie steht nicht in Konflikt zu den islamischen Prinzipien der Regierungsgewalt. Im Gegenteil lassen die ethischen Ziele des Islam, wie das Recht auf Leben und dem Schutz der Religionsfreiheit, am besten in einer Demokratie ermöglichen, in der die Bürger sich an der Regierung beteiligen und partizipieren können.
Achtung von Diversität
Wir haben außerdem die Aufgabe, bestimmte Werte, die das Gewebe einer blühenden Nation bilden, zu umarmen. Ein solcher Wert ist der Respekt vor der Vielfalt jeglicher Art – ob religiöse, kulturelle, soziale oder politische Diversität. Dies bedeutet nicht, dass wir Kompromisse in unseren Überzeugungen eingehen sollen. Im Gegenteil: Die Akzeptanz eines Menschen – unabhängig von Hautfarbe oder Religion – als würdiges Geschöpf Gottes demonstriert Respekt vor dem freien Willen, den Gott allen Menschen gegeben hat.
Die Meinungs- und Ideenfreiheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie. Das schlechte Abschneiden der Türkei in Rankings der Transparenz und der Medienfreiheit ist enttäuschend. Reife Menschen heißen Kritik willkommen; denn durch sie verbessern und entwickeln wir unser Handeln. Eher sollten wir irrige und unkluge Ideen und Handlungen kritisieren, nicht die Individuen persönlich, um unnötige Spannungen zu vermeiden.
Die Religion darf nicht als Staats-Ideologie instrumentalisiert werden
Die reduktionistische Sicht, im Namen der Religion nach politischer Macht zu streben, widerspricht dem Geiste des Islam. Werden Religion und Politik vermischt, so leiden beide darunter, die Religion aber am ehesten. Jedes Segment der türkischen Gesellschaft hat das Recht, im Parlament und der Regierung vertreten zu werden. Der türkische Staat hat aber seit langem Bürger und Beamte aufgrund ihrer Ansichten diskriminiert. Demokratische Inklusion wird Menschen dazu ermutigen, ihren persönlichen Glauben bzw. Überzeugungen zu offenbaren, ohne sich Sorgen zu machen, belästigt oder diskriminiert zu werden.
Seit den 1970er Jahren haben Teilnehmer der Hizmet-Bewegung, die aus allen Ecken der Gesellschaft kommen, durch die Gründung von Bildungseinrichtungen, Hilfsorganisation und ähnlichen zivilgesellschaftlichen Projekten versucht, Chancengleichheit für alle zu schaffen. Ihre primäre Motivation war intrinsischer Natur, da sie versuchen, die Glückseligkeit im Glück anderer zu finden.
Hizmet-Engagierte – und ich halte mich für einen von ihnen – sind nie politische Akteure gewesen, haben nie Interesse an Machtprivilegien gehabt und werden es auch nie haben. Dies wird aus ihrer persönlichen und finanziellen Verpflichtung für humanitäre Hilfe, die Bildung und den Dialog, sowie deren entschlossenem Fernbleiben vom politischen Amt deutlich.
Neben dem Ermutigen der Bürgerinnen und Bürger, sich an den Wahlen zu beteiligen, habe ich bisher noch nie eine politische Partei oder einen bestimmten Kandidaten unterstützt oder abgelehnt. Ich werde mich auch in Zukunft davor enthalten. Ich vertraue der Weisheit des türkischen Volkes und glaube, dass sie die Demokratie und die Interessen der Nation über parteipolitische Besorgnisse aufrechterhalten werden.
Meine letzten 15 Jahre habe ich in spiritueller Abgeschiedenheit verbracht und unabhängig von den Ereignissen in der Türkei möchte ich dies fortsetzen. Ich bete, fass die Türkei die aktuellen Probleme, als Chance sehen wird, um die Demokratie, die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit zu fördern. Und ich bin fest davon überzeugt, dass durch die Erneuerung unserer Verpflichtung zu demokratischen Grundprinzipien wir wieder Vertrauen und Stabilität wiederherstellen und das türkische Beispiel erneut beleben können, das eine Inspiration für die Region geworden war."
Quelle: Fethullah Gülen - Turkey needs a new constitution to save its democracy, aus: http://www.ft.com/intl/cms/s/0/31966a74-a623-11e3-8a2a-00144feab7de.html#axzz2vq4qbg5z, Originalsprache: Englisch, vom 10.02.2014.
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